40. Kapitel - Die junge Gräfin

52 5 3
                                    

Die nächsten Tage erlebte sie, als stünde sie neben sich. Das Begräbnis der Mutter, einen erneuten Besuch des Notars, eine Untersuchung durch den Arzt der Gräfin, weil sie nur lethargisch vor sich hinstarrte und danach ein paar Tage verordnete Bettruhe.

Eine Woche nachdem die Gräfin unter der Erde war, erhielt sie Besuch von einem Anwalt, Mr. Greene, der erklärte, ihr Vormund zu sein und zu Lebzeiten des Vaters von diesem genaue Anweisungen erhalten zu haben, an die er sich nun zu halten gedachte. Sie erinnerte sich, ihn früher oft im Büro des Vaters ein und aus gehen gesehen zu haben und dankte dem Grafen still, dass er immer für alles penibel vorgesorgt hatte.

Anne äußerte dem Mann gegenüber ihre Wünsche und er war mit allem einverstanden. Nachdem er sich verabschiedet hatte, atmete sie tief durch und hoffte inständig, dass schon alles gut werden würde. Vor ein paar Tagen noch, hatte sie sich gesorgt, wo sie die nächste Zeit schlafen sollte und nun war sie eine junge Gräfin und besaß ein eigenes Vermögen. Es würde lange dauern, ehe sie diese Wendung der Dinge verinnerlichen konnte

Sie bat den Butler Mr. Burg bald darauf, sie nach London zu bringen und stattete dort Gabriel einen Besuch im Hospital ab. Er erklärte ihr stolz, dass er in wenigen Tagen zu Onkel und Tante nach Hause durfte. Anne war glücklich, ihn so gesund und munter zu sehen und verabschiedete sich beruhigt und zuversichtlich.

Danach fuhr sie zum Tropfenden Kessel und die Zuversicht schwand, so schnell wie sie gekommen war. Der Pub war dunkel und schmuddelig wie immer. Aber wo früher trotzdem Zauberer und Hexen aller Couleur sich eine Pause vom geschäftigen Treiben in der Diagonallee gegönnt, zusammen getrunken und hitzig diskutiert hatten, wo auch der ein oder andere wütende oder verirrte Zauber für zerbrochene Gläser gesorgt hatte, schienen nun die Gäste auszubleiben und es herrschte gähnende Leere.

Tom, der Wirt, war über den Tod seines einzigen Sohnes in sich zusammengesunken, der letzte Rest Haares war ihm ausgegangen und der Buckel schlimmer geworden. Viel hatte er noch nie geredet, nun war er nur noch einsilbig und Anne war froh, nicht bleiben zu müssen, sondern nur den Durchgang zur Diagonallee zu nutzen.

Aber auch diese war kaum wiederzuerkennen. Das fröhliche, geschäftige Treiben von früher hatte sich in gehetzte Eile gewandelt. Die Hexen und Zauberer wagten sich nur noch für die wichtigsten Erledigungen auf die Straße und gingen so schnell wie möglich wieder heim. An allen Ecken standen finstere Gestalten in dunklen Umhängen herum und schüchterten die Passanten ein.

Etliche Schaufenster waren vernagelt oder verwaist. An Florean Fortescues Eissalon prangte ein Türschild: „Heute geschlossen" und bei Madam Malkins Anzüge für jede Gelegenheit verkündete ein Zettel im Schaufenster: „Termin nur nach Vereinbarung".

Anne wanderte betroffen durch die Straße. Keine Kinder standen mehr vor den Fenstern des Scherzartikelladens und auch vor dem Sportgeschäft drückte sich niemand mehr die Nase platt, um die neuesten Rennbesen zu bewundern. Wer konnte, blieb zu Hause. Die wenigen Menschen auf der Straße eilten mit gesenkten Köpfen von Tür zu Tür und machten einen großen Bogen um Fremde.

Anne fühlte sich unwohl, so ganz allein in dieser bedrohlich gestimmten Umgebung. Sie erledigte ihre Bankgeschäfte bei Gringotts und eilte dann zu Euylops. Als sie das Geschäft verließ, hatte sie das wichtigste dabei, das heute zu besorgen war: eine junge Schleiereule, so dass sie endlich an ihre Freunde schreiben konnte.

Wachsamen Auges und jederzeit bereit, den Zauberstab zu zücken, ging sie durch die Straße zurück. An der Abzweigung zur Nockturngasse traf sie überraschend auf einen ihrer Lehrer.

„Professor Knightley", rief sie erstaunt aus.

Er drehte sich zu ihr um und schockiert sah sie, dass sich über seine linke Gesichtshälfte eine tiefe, erst wenige Tage alte Wunde zog, von der Augenbraue bis zur Oberlippe. Das Auge war dick geschwollen und geschlossen und sie konnte nicht sehen, ob es noch intakt war.

Zauberwelt - Anne Eastwood - Teil 1 (Rumtreiber FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt