Neuanfang?

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Nachdem ich einen Moment lang einfach nur verwirrt und fassungslos am Ausgang der Toiletten herumgestanden hatte, ging ich schnellen Schrittes auf Lea und die fremde Frau zu.

Ich schupste die Braunhaarige mit den langen Dreads zur Seite und wandte mich an meine Freundin. „Was fällt dir eigentlich ein?", schrie ich ihr ins Gesicht.

„Was mir einfällt?" Lea lachte verächtlich. „Du bist doch die, die mich beim Sex Jule genannt hat!"

Jetzt war's raus. „Und was ist daran so schlimm? Das war ein bescheuertes Versehen, das weißt du doch."

„Lena Sophie Oberdorf, ich bin nicht bescheuert ! Da läuft doch was zwischen euch, das merkt ja wohl jeder." Tränen rannten über Leas Gesicht.

„Und deshalb küsst du direkt das erstbeste Girl, was dir über den Weg läuft?" Wir waren mit der Zeit immer lauter geworden, inzwischen hatte sich eine Gruppe an Menschen um uns versammelt und guckte gespannt zu. Hoffentlich waren keine Reporter*innen unter den Gästen, auf einen Artikel über Lea und mich könnte ich wirklich verzichten.

„Ich bin ganz sicher nicht irgendein Girl, ich hab Lea getröstet, als es ihr wegen dir komplett beschissen ging", mischte sich jetzt auch die fremde Frau ein, „Das wäre eigentlich deine Aufgabe gewesen, aber anscheinend bist du anderweitig beschäftigt. Lea hat eine treue und einfühlsame Person verdient, und die bist du anscheinend nicht."

„Danke, Charlie", schluchzte Lea und umarmte die Braunhaarige.

Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, drehte ich mich um und stürmte auf den Ausgang zu. Draußen regnete es in Strömen und ich flüchtete mich schnell in einen Hauseingang. Da wurde mir bewusst, dass wir alle auf vier Autos verteilt gekommen waren, und keines davon war meins. Also nahm ich mein Handy aus der Hosentasche, um mir ein Uber zu rufen. Gerade als ich die App öffnen wollte, bekam ich einen Anruf.

Der Name Jule leuchtete auf dem Bildschirm auf, zusammen mit dem Bild, was ich für sie ausgesucht hatte. Es zeigte uns beide bei der Natio im Teambus, Jule hatte einen Arm um mich gelegt und schnitt eine Grimasse. (Das Bild ist übrigens das Cover meiner anderen Geschichte, lest da auch gerne mal rein)

„Ich muss dringend mit dir reden", sagte Jule, sobald ich den Anruf angenommen hatte. „Es geht um uns, um den Kuss-„ Sie stockte kurz, als müsste sie einen Moment lang überlegen. „Es geht um so viel mehr als diesen kurzen Moment, es war eher, als wäre der Kuss der Tropfen gewesen, der das Fass zum überlaufen gebracht hat. Das Fass voll mit Gefühlen für dich, das sich in den letzten Jahren immer und immer mehr gefüllt hat, in jeder Sekunde, in der ich Zeit mit dir verbracht habe. Aber in dem Moment, wo wir uns geküsst haben, da war mehr, als ich vorher dachte. Es hat sich so perfekt, so richtig angefühlt. Ich kann das nicht einfach vergessen, und du kannst mir nicht erzählen, dass dir das nichts bedeutet hat. Bitte Lena, bitte sag, dass ich dir nicht egal bin."

Ich konnte inzwischen hören, wie sie weinte, und es brach mir fast das Herz.

„Jule, du könntest mir niemals egal sein. Das warst du nie.", sagte ich und war erschrocken, wie brüchig meine Stimme klang.

Eine kurze Pause entstand, in der ich nur ihren unregelmäßigen Atem hören konnte. Mir war klar, dass dies der Moment war, der alles verändern konnte. Vielleicht war es schon lange fällig, aber ich hatte es verdrängt – aus Angst, aus Unsicherheit, oder weil ich dachte, es wäre einfach leichter, die Dinge so zu lassen, wie sie waren.

„Dann warum... warum hast du nie etwas gesagt?", flüsterte sie.

„Ich hatte Angst", antwortete ich. „Du bist mir so unglaublich wichtig, ich wollte nichts zerstören, ich wollte dich nicht verletzen und doch hab ich's jetzt getan."

Einen kurzen Moment herrschte komplette Stille, ich konnte nur Jules Atem am anderen Ende der Leitung hören. „Es ist noch nicht zu spät für einen Neuanfang", sagte sie leise.

„Bist du in deiner Wohnung in Wolfsburg?", fragte ich unvermittelt, ohne weiter auf das eben gesagte einzugehen.

„Ja, warum?", fragte Jule verwirrt.

„Leg dich ruhig schlafen, wenn du morgen aufwachst, steh ich vor deiner Tür." Ich musste lächeln. „Mit frischen Brötchen natürlich", ergänzte ich noch.

„O-okay, bis dann", verabschiedete Jule sich.

„Bis dann", murmelte ich und beendete den Anruf.

Ob das eine gute Idee war? Mein Bauch grummelte, das war wohl ein klares Nein. Trotzdem musste ich mich dringend mit Jule aussprechen, und das ging am Telefon nunmal nicht so richtig. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch bestellte ich mir ein Uber bis nach Wolfsburg. Die junge Fahrerin freute sich sehr, schließlich würde sie mit der über sechs Stunden langen Fahrt fast ein halbes Monatsgehalt verdienen. Es war absurd, für so eine lange Strecke ein Uber zu nehmen, aber ich wollte so schnell wie möglich bei Jule sein. Wenn ich selbst gefahren wäre, hätte ich frühestens gegen Mittag bei ihr sein können, ich hasste es, im Dunkeln auf der Autobahn zu fahren.

Nachdem ich kurz Smalltalk mit der Fahrerin gehalten hatte, setzte ich meine Kopfhörer auf und machte meine Playlist an. Schon in den ersten paar Sekunden des Songs wusste ich, um welchen es sich handelte. Als dann der Refrain kam, konnte ich nicht mehr und eine Träne lief meine Wange herab.

Weil ich liebe, dass
Ich für dich immer alles steh'n und liegen lass'
Und schon klar, bei dir ist für niemand Platz
Deine Augen strahl'n so wie Wien bei Nacht
Und ich liebe das
- liebe das- TJARK

Während der Fahrt starrte ich gedankenverloren aus dem Fenster, beobachtete die Lichter, die in der Dunkelheit der Nacht vorbeizogen, und ließ die Worte des Songs in mir nachklingen. Es war, wie als würde der Text von mir kommen, die Zeilen spiegelten nahezu perfekt meine Gefühle zu Jule wieder. Ich würde alles für sie tun, mir mitten in der Nacht ein Uber zu ihr nehmen, nächtelang wachbleiben, um ihre Hand zu halten, wenn es ihr schlecht ging. Und trotzdem war ich nicht genug für sie gewesen, hatte nie zu meinen Gefühlen stehen können. Doch jetzt hatte ich die Möglichkeit alles zu ändern, und ich war bereit, es zu versuchen.

Wir haben die 1K Reads geknackt, vielen Dank an alle, die diese Story bis jetzt gelesen haben!
Den nächsten Teil habe ich tatsächlich schon angefangen, also sollte das diese Mal auch nicht so lange dauern.
Bis dahin, bleibt gesund :)

-toni

distance (jule brand x lena oberdorf)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt