02 - Ein furchtbarer Geburtstag

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TW: Gewalt

Vier Wochen waren vergangen, seit die Sommerferien begonnen hatten, und für Harry hatten sie sich wie eine Ewigkeit angefühlt. Die Tage zogen träge dahin, kaum zu unterscheiden voneinander. Der Regen, der am letzten Schultag noch unaufhörlich gegen die Fenster getrommelt hatte, war längst einem drückenden, warmen Sommer gewichen. Das alte Haus, in dem Harry mit James lebte, lag nun wie ein vergessener, verwilderter Ort inmitten der flirrenden Hitze. Harry hatte sich angewöhnt, die meiste Zeit draußen im Garten zu verbringen. Nicht, weil der Garten besonders schön oder einladend war – im Gegenteil. Das Gras wuchs kniehoch, die Sträucher waren wild und ungezähmt, und das Unkraut hatte sich längst überall ausgebreitet. Doch hier draußen fühlte Harry sich freier. Die Sonne wärmte sein Gesicht, und das leise Rascheln der Blätter gab ihm wenigstens eine Art von Trost. In diesen Wochen hatte sich nicht viel geändert. James ging jeden Morgen früh zur Arbeit und kam erst spät abends nach Hause. Die Momente, in denen er und Harry sich tatsächlich begegneten, waren selten, und wenn sie doch einmal im selben Raum waren, sprach James kaum mit ihm. Es war, als wäre Harry unsichtbar – ein Geist, der durch das Haus schlich, ohne wirklich da zu sein. In der ersten Woche hatte Harry noch versucht, sich ein wenig bemerkbar zu machen. Er hatte sich schließlich ein Herz gefasst und gefragt, ob sie bald seine Sachen für Hogwarts kaufen gehen würden. Doch James hatte ihn nur flüchtig angesehen, als hätte er die Frage gar nicht wirklich gehört, und dann etwas Unverbindliches gemurmelt. Seitdem hatte Harry es nicht mehr gewagt, das Thema anzusprechen. Die Unsicherheit darüber, wann – oder ob – sie überhaupt nach Hogwarts gingen, nagte an ihm, aber er war es gewohnt, mit Ungewissheiten zu leben. Das Schlimmste war jedoch, dass Harry oft Hunger litt. James vergaß, dass er für Harry sorgen musste. Es war nicht so, dass er ihn absichtlich hungern ließ – er dachte einfach nicht an ihn. Wenn Harry mutig genug war, ihn am Abend zu fragen, ob es etwas zu essen gäbe, bekam er manchmal ein Sandwich oder etwas Obst. Aber oft brachte er es nicht über sich, zu fragen, und dann zog er sich einfach in sein Zimmer zurück, den Magen leer und den Kopf voll mit Gedanken an das, was ihm bevorstand. Und so verbrachte Harry die meiste Zeit allein im Garten. Dort war er sicher, dort konnte er in der Sonne sitzen, das Rauschen der Bäume hören und für einen Moment vergessen, wie einsam er war. Manchmal fand er sogar kleine Insekten oder Schmetterlinge, die sich zwischen den hochgewachsenen Gräsern tummelten, und er beobachtete sie stundenlang, als wären sie die einzigen Lebewesen, die sich um ihn kümmerten. Doch der nächste Tag drängte sich wie eine dunkle Wolke in seine Gedanken, immer schwerer und drückender: sein Geburtstag. Für andere Kinder war der Geburtstag ein Tag voller Freude, Geschenke, Kuchen und Feiern. Ein Tag, an dem sie im Mittelpunkt standen, von ihren Familien geliebt und umsorgt. Für Harry war sein Geburtstag nichts weiter als eine Erinnerung daran, dass er in seinem eigenen Zuhause nicht existierte. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal an seinem Geburtstag gefeiert worden war – vielleicht nie. An diesem Tag war James, wenn er überhaupt zu Hause war, immer besonders verschlossen, und seine Stimmung war düsterer als sonst. Es war, als wäre der Tag eine Last, die noch schwerer auf ihren Schultern lag als all die anderen Tage. Am Abend vor seinem Geburtstag saß Harry im Garten und beobachtete, wie die Sonne hinter den Bäumen verschwand. Der Himmel war in sanftes Orange und Rosa getaucht, und die ersten Sterne zeigten sich am dunkler werdenden Himmel. Die Luft war warm, aber die Stille um ihn herum drückte schwer auf seine Schultern. Er dachte an Hogwarts. Der Brief, den er vor Wochen bekommen hatte, war das einzige Licht in seinem Leben. Eine Zukunft, die ihm versprach, wegzukommen, eine Zukunft, die ihm Hoffnung gab. Aber selbst diese Hoffnung verblasste ein wenig, da er noch immer keine Ahnung hatte, wann oder ob James überhaupt daran dachte, ihn vorzubereiten. Die Unsicherheit nagte an ihm. Jeder Tag, der verstrich, fühlte sich wie eine verpasste Gelegenheit an. Was, wenn James es einfach vergaß? Was, wenn er Harry am Ende gar nicht gehen ließ? Ein leises Rascheln ließ Harry aufhorchen. Im hohen Gras vor ihm bewegte sich ein kleiner Igel, der sich gemächlich seinen Weg durch das Dickicht suchte. Harry lächelte schwach. Er hatte den kleinen Kerl schon öfter gesehen, wie er durch den Garten tappte. Manchmal blieb der Igel stehen und sah ihn mit seinen kleinen, glänzenden Augen an, bevor er weiterzog. Es war eine winzige Ablenkung, aber für Harry war es einer der wenigen Augenblicke, in denen er sich nicht völlig allein fühlte.

Im Schatten des VatersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt