03 - In der Winkelgasse

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Es vergingen einige Minuten, vielleicht sogar Stunden, bis Harry das Geräusch von Schritten hörte, die langsam den Flur entlang kamen. Die Stille war fast erdrückend gewesen, aber jetzt war da diese leise, scharrende Bewegung, und Harry wusste, dass James zurück war. Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich leise, und der Geruch von warmer Suppe strömte in den Raum. Es war ein seltsamer, beruhigender Duft, der jedoch keinen Trost in Harrys Brust auslöste. James trat mit einem Tablett in den Raum. Darauf stand eine dampfende Schüssel Suppe und ein Stück Brot. Seine Schritte waren vorsichtig, fast zaghaft, als er sich dem Bett näherte und das Tablett auf dem kleinen Nachttisch abstellte. Für einen Moment sagte er nichts, stand nur da und betrachtete Harry, als würde er überlegen, was er sagen oder tun sollte. Harry wollte sich aufsetzen, doch sein Körper verweigerte ihm den Dienst. Der Schmerz, auch wenn er durch die Tränke gedämpft war, war immer noch da, wie ein drückendes Gewicht, das ihn in die Matratze presste. Jeder Versuch, sich zu bewegen, löste ein leises Zucken in seinen Gliedern aus, und er gab es schließlich auf. James bemerkte Harrys vergebliche Bemühungen und setzte sich widerwillig auf die Bettkante. Sein Gesicht war schwer von Müdigkeit und Schuld, doch seine Bewegungen waren plötzlich so sanft, dass es fast unwirklich schien, als wäre er nicht derselbe Mann, der Harry in der Nacht zuvor so brutal misshandelt hatte.

»Du solltest etwas essen«, murmelte er, während er die Schüssel aufnahm und den Löffel darin eintauchte. Harry sagte nichts, er konnte es nicht. Er fühlte, wie James den Löffel zu seinen Lippen führte, und öffnete den Mund, ohne groß darüber nachzudenken. Die Suppe war warm und schmeckte mild, aber Harry hatte keinen Hunger. Dennoch ließ er es geschehen, ließ seinen Vater ihn füttern, weil er wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich zu wehren. Die Stille zwischen ihnen war fast erdrückend, während James Löffel für Löffel der Suppe an Harrys Mund führte. Es war eine seltsame, beklemmende Fürsorge, die nur nach solchen Ausbrüchen kam. Harry kannte dieses Muster. Es war nicht das erste Mal, dass James ihm nach einem Wutanfall auf diese Art und Weise zu zeigen versuchte, dass es ihm leidtat. Es war, als würde James glauben, dass ein warmes Essen und ein paar sanfte Worte die gebrochenen Knochen und die noch tiefer gehenden Wunden heilen könnten.

»Morgen ...«, begann James leise, als er Harry das letzte Stück Brot reichte, »morgen könnten wir in die Winkelgasse gehen. Deine Sachen für Hogwarts kaufen.« Seine Stimme klang bemüht, als wolle er Harry versichern, dass es diesmal anders wäre, dass er es diesmal besser machen würde. Harry schluckte das Brot, sein Magen war inzwischen voller Suppe, aber das Gefühl von Schwere und Schmerz war immer noch da. Er wagte es nicht, seinen Vater anzusehen. Stattdessen starrte er auf die Decke, während die Worte in seinem Kopf widerhallten. James hatte ihm schon einmal etwas versprochen. Er erinnerte sich nur zu gut daran, wie dieser vor Jahren – als Harry gerade sechs Jahre alt gewesen war – ihm versprochen hatte, ihn zu einem besonderen Ausflug mitzunehmen, nachdem er ihn verletzt hatte. Damals hatte er es eilig gehabt und Harry versehentlich die Treppe hinuntergestoßen. Der Junge war die Stufen hinabgestürzt, seine Arme in einem ungelenken Winkel verdreht, und der Schmerz, der seine Glieder durchzuckt hatte, war überwältigend gewesen. Beide Arme waren gebrochen, und während Harry vor Schmerz weinte, hatte James ihn mit leeren Versprechen von einem Abenteuer zu trösten versucht. Ein Abenteuer, das nie stattgefunden hatte. Harry wusste, dass es auch diesmal nicht anders sein würde. Die Winkelgasse, Hogwarts, seine Sachen – all das war jetzt in greifbarer Nähe, aber trotzdem fühlte es sich weit entfernt an, als wäre es nur eine vage Hoffnung, die jederzeit wieder zerbrechen könnte. James hatte oft versprochen, es besser zu machen, doch am Ende blieb immer nur die Entschuldigung. Leer und bedeutungslos, wie der leise, tonlose Klang, den sie jedes Mal trug.

»Du solltest dich ausruhen«, sagte James schließlich und stand auf. Er stellte die leere Schüssel wieder auf das Tablett und sah kurz auf Harry herab. Seine Augen waren müde, und der Ausdruck auf seinem Gesicht war schwer zu deuten. War es Bedauern? Scham? Oder einfach nur Erschöpfung?

Im Schatten des VatersWo Geschichten leben. Entdecke jetzt