Anna

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Jona
Die Sonne ging grade unter, als ich das Haus verließ. Der Himmel erstrahlte in den schönsten Farben und zog mich in seinen Bann.
Mich verzaubert es immer wieder, wie der Himmel die Farbe wechselt und die Grenze zwischen Tag und Nacht verwischt.

Ich vergrub meine Hände in den Taschen und lief in Richtung Wald.
Die kühle Abendluft roch leicht nach Regen und klärte meinen Verstand, vertrieb den Schleier aus grauem Nebel, der meine Gedanken tagsüber umhüllte und alles dämpfte, was um mich herum geschieht.
Aber hier draußen bin ich frei, alle finsteren Erinnerungen bleiben hinter mir zurück und mit jedem Schritt fällt mehr Last von meinen Schultern.

Als ich den Waldrand erreichte, legten sich die Schatten der Nacht immer tiefer über die Stadt.
Ich setzte mich auf einen umgefallen Baumstamm und blickte Richtung Stadt.
Langsam gingen überall die Lichter aus, die Leute gingen schlafen.

Für mich ist Schlaf keine Erholung, Schlaf ist für mich mit Albträumen verbunden, mit Angst und stummen Schreien in der Nacht.

Ich drehte mich Richtung Wald und mein Blick verlor sich in seiner Tiefe.
Ich saß oft hier, dieser Ort hatte eine unglaublich beruhigende Wirkung auf mich.
Hier hatte ich meine Ruhe, selten kamen Spaziergänger vorbei und wenn beachteten sie mich nicht.

Meine Hand strich über die raue Rinde, wie es hier wohl bei Tageslicht aussah?
Ich war noch nie morgens oder mittags hier, seit einem knappen Monat scheute ich die Sonne.
Sie drang nicht bis tief in meine Seele, die Dunkelheit lässt sie nicht durch, sie blendet mich nur.

Langsam kroch die Kälte in meine Klamotten, schweren Herzen machte ich mich auf den Weg nachhause und mit jedem Schritt in Richtung der Häuser nahm der Druck auf meine Brust zu.

Ich wollte nicht nachhause, die Wände schienen mich zu erdrücken und in jeder Ecke lauerten finstere Erinnerungen, die nur darauf warteten, über mich herzufallen.

Ich fühlte mich so fremd in dieser Welt, doch schon am nächsten Tag sollte alles anders werden.
Anna
Es wurde langsam dunkel, das merkte ich daran, dass die Sonnenstrahlen von meinem Gesicht verschwanden.
Es wurde Nacht.
Ein kühler Wind wehte zu mir ins Zimmer, fröstelnd tapste ich in Richtung Fenster, ich tastete vorsichtig nach dem Griff und schloss es.

Ich lehne meine Stirn gegen die kühle Scheibe, ich würde so gerne hinaus sehen, die letzten Strahlen der Sonne einfangen und die Farben des Himmels sehen.

Als mir kalt wurde, lief ich vorsichtig zu meinem Bett, ich war noch immer unsicher, obwohl ich mein Zimmer in und auswendig kannte, ich fragte mich, wie andere das machten.

Erschöpft sank ich auf mein Bett, mit meinen Händen löste ich mein Haar.
Es ist länger geworden, wie gerne würde ich betrachten, wie es mein Gesicht umspielt und in leichten Wellen über meine Schultern fällt.

Ich vertrieb den Gedanken und kuschelte mich in meine Decke, unter meinem Kopfkissen lag mein iPod, auf ihm ist all meine Musik, mein wichtigster Begleiter in meinen schlaflosen Nächten.
Ich tippte mich durch die Playlist und blieb schließlich an einem Lied hängen.
Ich vergrub mein Gesicht im Kissen und verlor mich in meinen Erinnerungen.
Der wahre Besitz eines Menschen sind seine Erinnerungen, für mich sind sie noch wertvoller, als für andere, nur in meinen Erinnerungen und Träumen leben die Farben und das Licht weiter.

Ich fragte mich, wie ich so je glücklich werden sollte, doch schon am nächsten Tag sollte ich meine Antwort darauf bekommen.

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Jona

Mit meiner Schwester an der Hand lief ich richtung Park.
Meine Mutter hatte mich dazu verdammt, mit meiner kleinen Schwester raus zu gehen.

Schon jetzt wünschte ich mich zurück in mein Zimmer, die Sonne brannte vom Himmel und in meinen langen Klamotten war mir viel zu warm.

Ich war erleichtert, als ich bemerkte, dass der Spielplatz dank der vielen Bäume im Schatten lag.

Lea lief schon vor, während ich mich unschlüssig umschaute, ich wusste nicht wohin ich mich setzten sollte, es waren fast alle Bänke von Müttern belegt und ich scheute mich, mich zu ihnen zu setzten.
Mein Blick schweifte umher und blieb an einem Mädchen hängen, dass am Rand auf einer Bank saß, diese lag zwar als einzige mitten in der Sonne, aber ich fühlte mich zu diesem Mädchen hingezogen.

Ihr Haar war in einen langen Zopf geflochten, es schimmerte in der Sonne wie flüssiger Honig, ihre Haut war leicht gebräunt und ihr Gesicht zart wie das einer Puppe.
In ihren Ohren steckten Kopfhörer und auf ihrer Nase saß eine riesige Sonnenbrille.
Als ich näher kam, erkannte ich Sommersprossen auf ihren Wangen.

Unsicher setzte ich mich neben sie und versuchte, mich auf meine kleine Schwester im Sand zu konzentrieren, doch mein Blick glitt immer wieder zu ihr hinüber.

Neben ihr auf der Bank lag ihre Tasche, auf der anderen Seite lehnte ein weißer Stab an der Lehne.
Ich betrachtete ihn genauer und stellte fest, dass es ein Blindenstock war.
Erneut blickte ich zu dem Mädchen, war sie etwa blind?
Ihre Hand tastete zu ihrem iPod und stoppte die Musik.
Dann griff sie nach ihrer Tasche, doch ihre Finger berührten stattdessen meine Hand.
"Oh, es tut mir leid, ich habe sie nicht kommen hören, meine Musik war zu laut."
Ihre Stimme war sanft und ein leichtes Lächeln lag in ihr.
Sie lächelt mich schüchtern an und ein rosiger Schimmer legte sich auf ihre Wangen.

"Schon...schon okay."
Meine Stimme kratze im Hals.
Wieder lächelte sie.
"Ich bin Anna und du?"
"Jona."
"Jona...ein schöner Name."
Sie hatte meinen Namen ganz weich ausgesprochen, das A ein wenig in die Länge gezogen.
"Danke."
Ich wollte etwas sagen, aber wusste nicht was, ihre Anwesenheit verhinderte, dass ich klar denken konnte.

"Was machst du hier?"

Ich brauchte einen kurzen Moment, bis ich begriff, dass sie mit mir gesprochen hatte.

"Ich passe auf meine kleine Schwester auf, und du?"

Erleichterung durchströmte mich, ich hatte einen ganzen, normalen Satz rausgebracht.

So etwas war mir noch nie passiert, eigentlich hasste ich es, mich mit Leuten zu unterhalten, aber ihr wollte ich zuhören.
"Ich genieße die Sonne, meine Mutter holt mich hier später ab.
Ich sitze hier gerne, weißt du. Ich liebe es, die Wärme der Sonne auf meiner Haut zu spüren, dabei Musik zu hören und ein Buch zu lesen."

"Du ließt?"
Ich sah sie an, konnte sie doch sehen?

Sie lächelte erneut und zog ein Buch aus ihrer Tasche.
"Der kleine Prinz", lass ich.
"Schlag es auf."
Ich nahm das Buch vorsichtig in meine Hand und öffnete es, das Papier fühlte sich seltsam an, dicker und weicher.
Ich bemerkte, dass das Papier wie geprägt war.
Ich fuhr leicht mit meinem Zeigefinger über die Prägung.
Oben schien der Text zu stehen, unten gab es eine Art Bilder, sie waren auch in das Papier geprägt, aber man konnte das Motiv erkennen.

"So lese ich."

Ich schloß das Buch und gab es ihr zurück.

"Wow."
Mehr konnte ich nicht sagen.
"Kennst du das Buch?"
"Nein..."
Das war gelogen, ich kannte das Buch in und auswendig, aber ich wollte, dass sie mir davon erzählte, wollte hören, welche Gedanken ihr in den Kopf kamen und wie sie zu der Geschichte stand.

Anna drehte sich ein Stück zu mir und begann zu erzählen, sie erzählte mir die Geschichte von vorne bis hinten und ich hörte ihr zu, als wäre es das erste Mal, dass ich sie höre.

So verging der Nachmittag, viel zu schnell war es Zeit für mich, mit Lea nachhause zu gehen.

Ich verabschiedete mich von Anna, " Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder."
"Bestimmt ", sie lachte, "musst dich nur öfter hier her verirren."
Ich lachte auch, "das werde ich bestimmt."
"Schön, das freut mich."
Freute es sie wirklich?
"Also...ich muss dann, bis bald...hoffe ich."
"Bis bald."
Ich schaute sie noch einmal an, nahm jedes kleine Detail in mich auf, dann nahm ich Lea an die Hand und lief mit ihr nachhause.

Wie Liebe schmecktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt