Orientierungslos

37 6 2
                                    

Anna
Als ich am nächsten Morgen meine Augen öffnete umfing mich sofort wieder die bittersüße Dunkelheit.
Doch ich hatte nicht viel Zeit mich selbst zu bemitleiden, ich musste mich fertig machen.
Ich hoffte Jona wieder zu treffen.
Ich stand vorsichtig auf und tapste in die Küche.

Als meine Füße die kühlen Kacheln berührten, dachte ich darüber nach, wie wenig sich für die anderen um mich rum geändert hatte.
Das Haus roch wie jeden Samstag morgen nach Pfannkuchen, die meine Mutter uns immer machte.
Mein Vater kam immer erst gegen 14 Uhr von der Arbeit, dann aßen wir zusammen Mittag, gingen spazieren und abends half jeder beim Abendessen.
So war es schon immer und so wird es wohl für immer bleiben.

Ich lehnte mich gegen den Türrahmen und hörte zu, wie meine Mutter den Tisch deckte und die Katze fütterte, alles war so beruhigend vertraut.

Während ich in Gedanken versank, spürte ich die Wärme der Sonnenstrahlen auf meinen nackten Armen und Beinen.
Manchmal hatte ich das Gefühl, ich könnte ich sie berühren, einfangen.
Und ein bisschen von dem Licht und der Wärme für dunkle Zeiten aufheben.
Doch die Sonne bringt mir kein Licht mehr, nur die Wärme auf der Haut, die oft aber nicht bis in mein Herz dringt und mich von innen wärmt.
Manchmal verabscheue ich die Sonne, sie bringt allen Licht und Glück, nur mir nicht, ich bin oft einsam in der kalten Dunkelheit, die in mir herrscht.

Mit einem Kopfschütteln vertreibe ich die düsteren Gedanken und mache mich auf den Weg zum Zimmer meiner Schwester.

Karina ist 19 und in meinen Erinnerungen ist sie wunderschön. Ihre Haare sind rotblond und sie hat funkelnde grüne Augen.
Sie war lange Zeit meine größte Stütze, sie war immer da und hat mich gehalten.

Leise klopfte ich an ihre Tür, ich wollte sie auf keinen Fall wecken, aber sie war schon wach und so betrat ich ihr Zimmer.

"Guten Morgen, Annie"
In ihrer Stimme lag so viel Wärme, dass ich lächelte und meine Arme nach ihr ausstreckte.
Sofort zog sie sich an mich.
"Ist alles in Ordnung?" fragte sie mich.
"Ja, aber ich brauche deine Hilfe. Ich treffe nachher jemanden...naja...vielleicht, hoffentlich. Und da möchte ich gut aussehen. Könntest du mit mir was schönes zum anziehen raus suchen?"
"Natürlich. Wer ist denn der Glückliche?"
"Ein Junge aus dem Park, Jona."
"Soso, du magst ihn?"
"Schon, ja, aber ich kenne ihn kaum."

Ich spürte wie meine Wangen rot wurden und senkte den Blick, während Karina lachte.
"Schon gut, schon gut, genug mit dem Verhör."

Sie öffnete ihren Schrank und wühlte darin herum.
"Na bitte, der ist perfekt."
Sie drückte mir ein Stück Stoff in die Hand.
"Das ist ein weißer Spitzenjumpsuit. Probier ihn mal an."
Ich schlüpfte aus meinem t-Shirt und zog ihn an.
Der Stoff fühlte sich leicht und luftig an.
"Du siehst toll aus", sagte Kira und öffnete meine Haare, um sie zu bürsten.

"Fertig. Du bist wunderschön, Annie."
"Danke."
Ein leichtes zittern lag in meiner Stimme.
"Hey...alles okay?"
"Ja, ich...ich würde mich nur gerne sehen."
"Oh Schatz", Karina zog mich an sich.

Wir standen einfach nur da, schweigend und Arm in Arm, bis unsere Mutter uns zum Frühstück rief.

Nach dem Frühstück holte ich schnell meine Tasche und bat meine Mutter, mich in den Park zu bringen.
Erst wollte sie nicht.
"Willst du nicht lieber zuhause bleiben? Du könntest dich in den Garten setzen, ich halte nicht viel davon, wenn du die ganze Zeit alleine im Park sitzt."
"Mama bitte."
Seufzend gab sie nach und brachte mich zu meiner Lieblingsbank.
Als sie weg war atmete ich erleichtert auf, jetzt musste nur noch Jona kommen.
Ich Griff zu meinen Buch und fuhr mit meinem Finger über die Seiten.
Die Geschichte des kleinen Prinzen zieht mich eigentlich immer wieder in seinen Bann, doch heute wollte es nicht gelingen.

Ich legte das Buch zur Seite und griff stattdessen zu meinem iPod.
Er war pink, das wusste ich, weil meine Eltern mich gefragt hatten, welche Farbe ich am liebsten hätte.
Ich lächelte bei dieser Erinnerung. Oft behandelten sie mich so, als könnte ich noch sehen.
Ich klickte mich durch meinen iPod, bis ich an einem Hörbuch hängen blieb.
Ich liebte Hörbücher, es war meine Art, in andere Welten einzutauchen, für einige Stunden in die Geschichte jemand anderes zu schlüpfen.

Ich hörte das Hörbuch durch.
Dann fing ich das nächste an.
Und das nächste, doch von Jona fehlte jede Spur.

Vielleicht war es dumm gewesen, zu kommen.
Vielleicht kam er ja gar nicht.
Ich beschloss Karina anzurufen, als sie ran ging, war ich unglaublich erleichtert.
"Anna, was ist den los?" Ihre Stimme klang besorgt.
"Nichts. Also, ich weiß nicht. Jona ist noch nicht da."
"Oh...weißt du was? Ich komme vorbei und wir warten gemeinsam, okay?"
"Okay, danke."
"Bis gleich."

Als Karina da war, saßen wir noch eine Stunde auf der Bank.
Der Spielplatz hatte sich gefüllt und das Lachen der Kinder drang zu uns hinüber.

"Was hältst du von Eis?"
Ich lächelte, "Eis hört sich gut an."
Ich harkte mich bei Karina unter und zusammen liefen wir zur Eisdiele.

Doch zu meiner Enttäuschung gab es keinen freien Platz.
"Das macht doch nichts. Du kennst doch die alten Baumstämme am Froschteich, da können wir uns hinsetzen. Ich bringe dich schnell rüber, dann hole ich das Eis."

Als ich auf Karina wartete, glitten meine Gedanken wieder zu Jona.
Warum war er wohl nicht gekommen?
Vermutlich hatte er besseres zu tun, als gleich am nächsten Tag wieder zu dem blinden Mädchen im Park zu rennen.

Trauer macht sich in mir breit, ich hätte ihn gerne wieder getroffen.

"Na wen haben wir den da?"

Ich schrak zusammen. Ich kannte die Stimme nicht.

"Ey, die ist blind. Lass uns weiter gehen."
"Blind?"
"Ja man, siehste nicht den Stock da?"
"Hm."

Ich spürte, wie sich jemand neben mich setzte, näher als mir lieb war.
"Wie heißt du denn?"
Ich senkte den Kopf und biss mir auf die Unterlippe.
"Hallo? Ich rede mit dir!"

Eine Hand legte sich auf meinen Arm.
"Na komm schon."
Die Hand Strich meinen Arm hoch und runter.

"Jakob lass sie doch."

"Halts Maul Benni."

Er legte seine Hand auf mein Bein, ich fühlte seinen heißen Atem an meiner Wange, als er sich zu mir beugte und sagte: "Da du nun unsere Namen kennst, wäre es nur fair, wenn du uns deinen auch verrätst, süße."

Ich bekam eine Gänsehaut. Was wollten diese Jungs von mir?

Seine Hand lag noch immer auf meinem Bein, es fühlte sich an, als würde meine Haut an dieser Stelle verbrennen.

Ich fühlte mich so hilflos. Ich hätte schreien können, doch ich war wie gelähmt.

Seine Hand, die vorher auf meinem Knie gelegen hatte, wanderte jetzt ein Stück weiter nach oben und drückte mein Bein leicht.

"Nicht..."
"Aha, du kannst also doch reden. Stell dich doch nicht so an, mach einfach mit. Wir wollen nur ein bisschen Spaß haben."

"Jakob, du machst ihr Angst, komm jetzt."
"Klappe Benni."

In diesem Moment durchbrach ich meine Starre.
Ich schüttelte seine Hand ab und lief.
Ich erinnerte mich, dass der Weg relativ grade verlaufen war.

Doch ich kam nicht weit. Schon nach wenigen Metern stolperte ich und fiel der Länge nach hin.
Meine Hände fühlten sich aufgeschlagen und und brannten.

Als ich ein Lachen hinter mir hörte, rappelte ich mich so schnell wie möglich auf und lief weiter.

Ich hatte keine Ahnung, wo ich hin musste, völlig orientierungslos lief ich einfach immer weiter.
Ich musste zu Karina, wo war sie? Warum brauchte sie so lange.
Tränen stiegen mir in die Augen.
Warum half mir denn niemand? Hier müssten doch Leute sein?
Ich lief schneller und fiel wieder. Heiße Tränen liefen mir jetzt über die Wangen.

Erneut rappelte ich mich auf.
Meine Hände und Knie waren aufgeschlagen und der metallische Geschmack von Blut breitete sich in meinem Mund aus, ich fuhr mit meiner Zunge über meine Unterlippe, sie fühlte sich blutig und aufgeplatzt an. Ich zitterte und fühlte mich unglaublich verloren.

"Anna?"
Seine Stimme traf mich wie ein Blitz. Er war hier.
Jona.
Ich fühlte noch, wie jemand seine Arme um mich legte, dann war ich weg.

Wie Liebe schmecktWo Geschichten leben. Entdecke jetzt