Das Leben mischt die Karten

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Ich hielt Anna in meinen Armen. Sie zitterte und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Sie klammerte sich an meine Jacke und ihr Kopf lehnte an meiner Schulter.
Vorsichtig schlang ich meine Arme um sie und trug sie zu einem schattigen Fleck im Gras, ich wollte sie Weg bringen von all den Menschen, die uns anstarrten.
Ich setzte mich mit ihr auf den Boden und lehnte meinen Rücken gegen den Baum hinter mir.
Anna beruhigte sich langsam.
Ich wusste nicht, ob ich sie fragen sollte, was passiert war, ob ich sie nachhause bringen sollte.
Ich legte einen Arm um sie und strich ihr ihre Haare aus dem Gesicht.
"Jona?" Ihre Stimme war noch ein wenig zittrig, aber sie weinte nicht mehr.
"Ich muss meine Schwester anrufen."
Ich nickte, doch dann wurde mir klar, dass sie das gar nicht sehen konnte.
"Äh, klar. Hast du ein Handy oder willst du meins nehmen?"
"Kann ich deins nehmen? Meins ist in meiner Tasche, ich glaube ich habe sie verloren."
"Natürlich, sagst du mir die Nummer und ich wähle?"
"Ja."
Ich tippte die Nummer ein und gab ihr dann mein Handy.
Ich konnte nicht verstehen, was die Person am anderen Ende sagte, aber sie klang sehr aufgeregt.
Anna hielt mir das Telefon hin, "kannst du Karina bitte sagen wo wir sind?"
"Klar."
Ich beschrieb Karina den Weg und sie sagte, dass sie in fünf Minuten da sei.

Die Wartezeit verbrachten Anna und ich schweigend. Ihr Kopf ruhte auf meiner Brust und ihr Haar schimmerte in der Sonne.
Es war ein Augenblick voller Ruhe, dieses Schweigen, dass einen verbindet und welches man nicht durch Worte stören darf.

Wehmut machte sich in mir breit, als eine junge Frau auf uns zugeeilt kam.
Sie hatte die gleichen Sommersprossen wie Anna.

Als Anna Karinas Stimme hörte, stand sie auf und fiel in ihre Arme.
Ich blieb sitzen und betrachtete die beiden.
Anna war etwas ganz besonderes.
Schon lange hatte ich niemanden mehr so nah an mich ran gelassen wie sie.
Ich hatte ihre Wärme genossen, ihren Geruch, ihren Kopf auf meiner Brust.
Es war etwas Neues für mich, ich hatte eine dicke Mauer um mich errichtet, die mich vor zu viel Nähe schützte, doch ich hatte nicht bedacht, dass sie kalte Schatten auf meine Seele warf.

Ich wollte grade aufstehen und gehen, als Karina mich am Arm zurück hielt.
"Jona, richtig?"
"Ja."
"Möchtest du mitkommen? Anna würde sich bestimmt freuen", sagte sie mit einem Lächeln.
Ich blickte zu Anna, sie nickte leicht.
"Wenn das in Ordnung ist, würde ich das gerne tun, also mitkommen, also...äh..."
Ich verhielt mich wie ein idiot.
"Dann komm."
Karinas Augen funkelten mich vergnügt an, als wir uns zu dritt zum Westende des Parkes aufmachten.

Auf dem Weg erfuhr ich, was Anna zugestoßen war. Brennende Wut stieg in mir hoch.
Die Jungs konnten nur hoffen, mir nie über den Weg zu laufen.

Am Auto angekommen stieg ich mit Anna hinten ein.
Die Fahrt über redeten wir wenig, aber Anna streckte ihre Finger nach meiner Hand aus.
Ich verschränkte ihre kalten Finger mit meinen und für einen kurzen Moment war ich einfach glücklich.

Wir hielten kurze Zeit später vor einem riesigen Haus.
Unsicher stand ich davor und sah es mir an.
Der Vorgarten war perfekt und ein weißer Kiesweg führte bis zur Eingangstür.
Das Haus selbst war etwa vier Mal so groß wie das, in dem ich mit meiner Mutter und meiner Schwester wohnte.
Die Fassade war strahlend weiß und große Fenster gaben Einblick in die schick eingerichteten Räume.
Ich blickte an mir hinunter, ich trug eine schwarze sweatjacke, ein weißes t-Shirt, eine schwarze Jeans. Dazu meine Lieblingssneaker, die ihre besten Tage auch schon hinter sich hatten.

Ich betrat hinter Anna und Karina die Küche.
Mein Herz schlug bis zum Hals, sie werden mich nicht mögen.
Anna und Karina waren nun in der Küche, ich blieb im Türrahmen stehen und betrachtete sie mit ihren Eltern.

Karina erzählte alles, während Anna sich an ihre Mutter drückte.
Annas Mutter hatte die gleiche Haarfarbe wie Anna, außerdem fanden sich in ihrem Gesicht die Sommersprossen wieder, die ich auch an Anna und Karina entdeckt hatte.

Als Karina von mir erzählte, wanten sich alle zu mir um.
"Ach...das war...doch kein Ding."
"Doch, das war es. Danke."
Annas Vater lächelte mich an, in seinen Augen fand ich nicht, wie erwartet, Ablehnung, sondern warme Freundlichkeit.

Ich wusste für einen Moment nicht, was ich tun sollte, doch Anna rettete die Situation.
"Darf ich mit Jona nach oben gehen?"
"Natürlich. Jona, möchtest du zum Essen bleiben?"
"Ähm...klar, sehr gerne."
Anna sprang von dem Schoß ihrer Mutter, "dann komm."
Sie nahm meine Hand und führte mich zu ihrem Zimmer.
Erstaunt beobachtete ich, wie sicher sie sich im Haus bewegte.

In ihrem Zimmer setzten wir uns auf Ihr Bett. Ihr Zimmer war hell und gemütlich eingerichtet und passte perfekt zu ihr.
"Willst du deine Jacke nicht ausziehen?"
Mir lief es heiß-kalt den Rücken runter.
Nein.
Vor diesem Moment hatte ich mich gefürchtet.
Unsicher zog ich meine Jacke aus und legte sie auf den Boden.
Anna kuschelte sich an mich und strich mit ihren Fingern über meine Haut.
Sie schien sie genau zu studieren, fuhr die Linien meiner Hand nach, verfolgte meine Adern.
Als sie an meinem Unterarm begann, versteifte ich mich.
"Jona...", ihre Stimme brach.
Ich schwieg.
Annas Finger folgten dem Labyrinth aus silbrigen Linien.
Ich hatte gehofft, sie würde nichts bemerken.
"Warum?"
"Ich bin...weggelaufen. Vor allem. Ich habe meine Probleme ignoriert und verdrängt. Ich wollte Schmerz mit Schmerz bekämpfen."
Für einen Moment herrschte Stille.
"Man kann nicht weglaufen."
Vorsichtig nahm Anna mein Gesicht in ihre Hände.
"Manchmal versucht man es. Aber sag mir, wohin läuft man? Wo ist das Ziel?
Die Flucht bringt einem nichts, man verläuft sich nur in Geheimnissen, Lügen und Hüllen, die man überstreift um sich zu schützen.
Man verliert sich selbst, weil man sich nicht stellt. Man stellt sich nicht seinen eigenen Probleme, aber sie gehören zu uns, sie sind ein Teil von uns und unsere Entscheidungen bestimmen unseren Weg. Wenn wir keine treffen, irren wir um her, ohne Ziel und ohne voran zu kommen.
Und bei Entscheidungen gibt es meistens kein richtig und kein Falsch, sondern nur Konsequenzen, mit denen wir leben müssen.
Du hast dich entschieden, alles einfach weg zu sperren, abzuhauen, aber das kannst du auf Dauer nicht.
Irgendwann wirst du einen heißen Atem im Nacken spüren, der dir einen Schauer über den Rücken jagt und dann sei dir sicher, alles was du verdrängt hast, wird dich packen und dann bist du verloren. Weißt du, das Leben mischt die Karten, aber wir spielen."

Ich wusste nicht was ich sagen sollte, aber sie schien auch keine Antwort zu erwarten.
Sie küsste mich leicht auf die Wange.
"Komm, das Essen müsste gleich fertig sein."
Ich wollte nach meiner Jacke greifen, als sie meinen Arm festhielt.
"Du musst sie nicht verstecken."
"Aber..."
"Wenn du es willst, tu es, aber es ist warm und niemand wird etwas sagen."
Und dann tat sie etwas, was noch nie jemand für mich getan hatte, sie verschränkte ihre Finger mit meinen und sagte: " Ich bin da, hab keine Angst."

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 10, 2015 ⏰

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