Kapitel 13

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Drei Tage lang hatte ich geschlafen und befand mich jetzt, nach dem ich wieder aufgewacht war, zwei weitere Tage hier. Es herrschte unerträgliche Langeweile, solange ich in dem weißen kahlen Zimmer lag.

Sobald meine Eltern und meine Schwester sich zu mir gesellten, wurde es in diesem Loch hier wesentlich erträglicher. Entweder erzählten sie mir von alten Momenten oder zeigten mir Fotoalben.

Es war nicht nur für mich ein komisches Gefühl, auch für sie war es ein neues Gefühl ihrer Tochter das alte Gedächtnis wieder zugeben, damit sie sich an alles erinnert.

Ich fragte mich bloß, wie lange das dauern wird, bis ich mein altes Gedächtnis wieder hatte. Würde es Monate ja vielleicht sogar Jahre dauern? Werde ich mich überhaupt noch an die alten Sachen erinnern können?

"Oder hier! Oh mein Gott das war wirklich ein geiler Tag gewesen. Wie du und Anna euch einfach in den Dreck gesetzt habt, nur damit keiner von uns euch ins Haus und für euren ersten Schultag fertig machen kann."

Meine Schwester lachte herzlichst über diese Erinnerung, doch mir zerbrach es nur das Herz, das ich mich daran nicht mehr erinnern konnte.

"Wer ist Anna?" "Ach stimmt." Meine Schwester wurde augenblicklich leiser und lächelte mich zaghaft an. "Anna ist deine beste Freundin und ein ganz liebes Mädchen. Ihr kennt euch seit dem ihr zwei seit"

Wow, so lange kannte ich eine Person, an die ich mich nicht erinnern kann? Traurig.

"Du wirst dich bestimmt an alles erinnern, wenn du sie wieder siehst." "Hoffentlich." "Aber klar. Darüber mach ich mir gar keinen Kopf. Das wird schon."

Den restlichen Tag über schwelgte ich allein in Erinnerungen und musste ab und zu lächeln, da mir einzelne Sachen bekannt vorkamen oder die Bilder einfach nur zum schießen komisch waren. Trotzdem tat es weh, nicht mit lachen zu können. Diese Ungewissheit, was vor meinem Unfall passiert ist, machte mich wütend.

Wie gern würde ich mitreden wollen. Wie gern würde ich mich über diese Momente totlachen und wie gern würde ich mich in meiner eigenen Familie wohlfühlen. Es war demütigend für mich, mich in meiner Familie als Außenseiter zu fühlen.

Jeder kannte jeden. Und ich? Ich musste meine Familie, mein eigenes Fleisch und Blut zum zweiten mal kennenlernen. Was schlimmeres gibt es doch nicht. Jedenfalls für mein Empfinden im Moment.

Seufzend lies ich mich in die Kissen fallen und starrte wie so oft, an die weiße Decke. Es gab aber auch nichts, was man hier machen konnte. Nur im Bett liegen und die Zeit tot schlagen. Wie ich Krankenhäuser doch hasse! Sie sind voll ätzend!

"Ähm, Melissa?" Ich schreckte hoch und fand einen Jungen in meinem Zimmer auf. Er ging mit Krücken und hatte so wie ich einen einbandagierten Kopf. "Du bist doch Melissa Wartington, oder?" Leicht nickte ich.

"Und du bist?" "Ich bin Leon, dein Halbbruder" ,sagte er und lachte. "Nett dich zusehen oder eher gesagt kennenzulernen." Ihm fiel das offensichtlich alles leicht. Wie er so vor meinem Bett stand in gebrochener Haltung und mich mit diesem entzückenden Lächeln ansah, konnte man nur meinem, er hatte sie nicht mehr alle.

"Ähm, ja find ich auch." ,stotterte ich, da mir darauf nichts besseres einfiel. "Was machst du hier? Musst du nicht in deinem Bett sein?" "Ich müsste, kann aber nicht mehr liegen. Das Bett ist steinhart." ,klagte er und rieb sich mit einer Hand den Rücken.

"Also meins ist weich." "Wirklich? Kann ich das mal ausprobieren?" Ohne auf meine Antwort zu warten, gesellte er sich zu mir unter die Decke. "Jap, eindeutig besser." Er machte es sich sofort bequem. Dabei hatte er den Arm um mich gelegt. Da das Bett nicht gerade groß war und keiner von uns runterfallen wollte, mussten wir uns aneinander kuscheln.

Mir war das komischerweise gar nicht peinlich. Warum auch wir waren Halbgeschwister. Zwar kannten wir uns nicht wirklich, aber auf eine gewisse Art und Weise fühlte ich mich seit längerem mal wieder bei jemanden wohl.

"Und, was machst du so den ganzen lieben lang Tag?" "Außer im Bett liegen nichts. Was soll man auch schon groß machen?" "Geht mir genauso. Warum sind wir eigentlich beide in Einzelzimmer gesteckt worden? Wäre es nicht viel lustiger uns in ein Zimmer zu bringen?"

"Damit ich dann kein Auge mehr zu machen kann, da du die ganze Nacht quatscht und denkst, ich würde dir zuhören?" "Ja, so hatte ich das geplant." "Nein Danke. Dann verzichte ich darauf." "Wie du meinst, du verpasst aber was."

Leon zwinkerte mir zu und ich musste unwillkürlich anfangen zu grinsen. "Was grinst du so?" ,fragte er und sah mich skeptisch an. "Es ist nur komisch, das wir beide in einem Bett liegen und es mir überhaupt nichts ausmacht." "Dann weiss ich ja, das ich das wiederholen kann."

Im Endeffekt hatte ich damit kein Problem, aber das musste er ja nicht erfahren. "Na schön ich denke mal ich sollte wieder zurück, damit die Krankenschwester nicht einen zweiten beinahe Herzinfarkt wegen mir bekommt."

Leon stand auf und schnappte sich seine Krücken. "Ich freue mich schon auf ein Wiedersehen, Schwesterlein." Zum Abschied zwinkerte er mir zu und ließ mich etwas abrupt allein.

Auch wenn er jetzt weg war, so fühlte ich mich nicht mehr ganz so allein, hier in diesem Krankenhaus.

Die Stunden vergingen, in denen ich nichts außer im Bett liegen und die Wand anstarren, tat. Wieso mussten sie mich in ein Einzelzimmer verlegen? Das es so öde werden kann, wusste ich nicht.

Plötzlich klopfte es und ein Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren schaute in mein Zimmer. Auch wenn ich sie zum ersten Mal sah, so wusste ich, das es Anna und gleichzeitig meine beste Freundin war.

"Hey, Meli. Wie geht's dir?" ,fragte sie und kam zögerlich näher. "Hey, Anna. Ganz gut." "Schön zu hören. Ähm, ich habe dir noch jemand anderes mitgebracht."

Fragend blickte ich sie an. "Wen?" "Kann sie reinkommen?" Ich nickte. "Du kannst rein kommen, Roxy."

Ein Mädchen mit braunen Haaren kam ins Zimmer und lächelte mich schüchtern an. "Hallo. Wir kennen uns zwar noch nicht lange und auch noch nicht wirklich gut, aber ich musste einfach wissen wie es dir geht" ,redete sie drauflos und ich verstand fast nur die Hälfte.

"Wir sind Zimmergenossinnen" ,sprach Anna aus, damit ich mir nicht mehr ganz so dumm vorkam. "Sie kam vor ungefähr zwei Wochen zu uns."

Beide ließen sich ans bettende nieder und Roxy erzählte mir ihre Geschichte, wie sie zu uns ins Internat gekommen war. Danach frischten die beiden mein Gedächtnis in Bezug auf Schule, Freunde und andere Sachen auf.

Am Schluss wusste ich wieder viel mehr und mir kam es gar nicht so vor, als hätte ich eine Gehirnerschütterung und mein Gedächtnis verloren. Es gab nur ein paar Lücken, die ich mit der Hilfe von meinen Freunden und meiner Familie zu füllen hatte, damit ich ein normales Leben leben konnte, wie vor dem Unfall.

"Wann wirst du entlassen?" "Keine Ahnung, aber ich hoffe bald. Das Zimmer macht mich wahnsinnig und mir kommt es jedesmal so vor, als würden die Wände näher kommen."

Prüfend blickte ich die kahlen Wände an, doch nichts geschah. Gut so.

"Das hätte ich fast vergessen zu sagen!" Anna klatschte sich wegen ihrer Schusseligkeit an die Stirn. "Der Schüleraustausch findet doch statt, Frau Mende hatte sich es erstmal überlegt, aber nachdem die Sache mit den Drogen aufgeklärt wurde, hat sie es uns doch erlaubt, da schon die meisten bezahlten hatten." "Und wer war's?"

Roxy und Anna schauten einander gegenseitig an und tauschten wahrscheinlich per Gedanken einzelne Nachrichten aus.

"Wer war's?!" "Lars." "Etwa einer von Leons besten Freunden?" Beide nickten. "Ach du scheisse. Und was passiert jetzt mit ihm?" "Er wird vorerst von der Schule suspendiert. Was dann kommt, weiß keiner."

Zu wissen, dass er einer meiner Freunde war, ich ihn aber nicht kannte und das nun zuhören bekam, löste in mir mehrere Gefühle aus, die ich nicht beschreiben konnte. Etwa Trauer? Oder Enttäuschung? Ich hatte keine Ahnung.

"Das sollte uns jetzt aber nicht runterziehen. Werd du mal gesund und wenn du wieder im Internat bist, wirst du deine beste Zeit haben, die du jemals hattest!" ,sagte Roxy und versuchte die bedrückende Stille mit guter Perspektive auf später zu überbrücken.

"Du hast recht. Am besten wir bombardieren Meli mit noch mehr tollen Geschichten, damit sie sich an alles erinnern kann und ich meine beste Freundin wieder hab."

Good Brother or Boyfriend? Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt