Kapitel 1

2.7K 150 46
                                    

„Hallo?", rief ich in die Leere hinein.
Doch eine Antwort war wohl nicht zu erwarten, denn um mich herum war nichts als völliges Weiß, schier endlos. Ich wusste nicht einmal, ob ich auf dem Boden stand oder an der Decke klebte. Ein Oben und ein Unten waren nicht auszumachen.

Ich ging einige Schritte und jeder meiner Schritte schien ins Unendliche widerzuhallen.
Wo zur Hölle war ich hier nur gelandet?

Plötzlich schlich sich ein ganz böser Gedanke in meinen Kopf und ich hoffte inständig, dass es nicht so war, wie ich glaubte. Das konnte nicht sein.

„Bin ich jetzt tot?", rief ich wieder ins Leere. Ich rechnete nicht mit einer Antwort, sondern nur damit, meine eigene Stimme widerhallen zuhören.

Doch auf einmal trat jemand neben mich.
„Du bist nicht tot", beantwortete ein Mann meine Frage.
Ich bekam fast einen Herzinfarkt, als ich ihn bemerkte und schreckte zurück. „Heilige...", zischte ich.
Er trug einen weißen Anzug, was einen starken Kontrast zu seiner dunklen Haut bildete. Seine Arme hatte er hinter seinen Rücken verschränkt.

„Wer sind sie?", fragte ich.
Er schmunzelte. „Du solltest dich nicht fragen, wer ich bin, sonder wer wir sind."

Aus dem nichts tauchten weitere fünf Personen auf. Sie alle trugen eine schwarze Robe wie für gewöhnlich sonst nur Richter. Auch der Mann, der eben noch neben mir gestanden hatte, saß mit in einer Reihe entlang eines langen Tisches. Vor jeder Person stand ein massives Namensschild, das golden glänzte.
Die Leute betrachteten mich. Obwohl sich in ihren Gesichtern nicht viel regte, strahlten sie Weisheit aus. Noch nie zuvor hatte ich auf den ersten Blick eine solche Ausstrahlung bei jemandem wahrgenommen.

„Ich nehme mir das Recht, Gregory zu verbessern, Denn es sollte darum gehen, wer du bist", sagte ein Mann mit weißem Haar. Er saß zusammen mit einer rothaarigen Frau, deren Gesicht schon einige Falten und zu viel Schminke zierten, in der Mitte des Richtertisches.

Ich runzelte die Stirn und fragte irritiert: „Was soll das denn heißen?"
„Es soll heißen, dass du kurz vor dem Tod stehst", sagte der Schwarze, Gregory wie er genannt wurde.
Eine Frau, die ihre blonde Haare zu einem strengen Dutt zusammen gebunden hatte, ergänzte: „Aber du bekommst womöglich noch eine Chance."

Mein Kopf brummte und ich versuchte aus diesem Rätsel schlau zu werden. Auch wenn diese Situation mehr als absurd war, zweifelte ich nicht daran, dass sie real war.
Trotzdem hoffte ich, dass es nur ein merkwürdiger Traum war. Denn wenn es so aussah, wenn man kurz vor dem Tod stand, dann war der Tod verdammt verwirrend.

Die Sechs ignorierten mich zunächst. Sie steckte mitten in einer Diskussion und ich war das Hauptthema.

„Normalerweise müsste sie eine dreijährige Ausbildung machen. Das ist verrückt!", sagte die Blonde.
„Oder sie macht einen Crashkurs", wandte Gregory ein.
Nun mischte sich noch eine junge Frau ein. Sie war höchstens Mitte zwanzig, hatte Locken und war genauso dunkel wie Gregory. „Diese Zeit hat das Mädchen nicht", stellte sie klar.
„Da hat Mary recht", stimmte ihr ein Mann mit gegelten Haaren zu. „Sie steht so kurz davor zu sterben. Sie wird keine Zeit dazu haben. Das könnte ihre letzte Chance sein."
„Ich denke nicht, dass sie diese überhaupt verdient", meinte die blondhaarige Frau.
„Cynthia!", zischte Mary aufgebracht.

Ich räusperte mich und lenkte somit die Aufmerksamkeit auf mich.
„Also wenn ihr schon über mich redet, dann doch bitte so, dass ich nicht alles mitbekomme oder ihr bezieht mich in eure Diskussion ein."
„Da hat sie allerdings auch recht", pflichtete mir Gregory bei. Ich nickte ihm dankend zu.

Der alte, weißhaarige Mann riss wieder das Wort an sich: „Du bekommst direkt eine zweite Chance, aber – sei dir dessen bewusst – nur weil es bei dir wirklich knapp aussieht."
„Oh super", freute ich mich. Meine Stimme triefte nur so vor Sarkasmus. „Ich bekomme also eine zweite Chance, weil ich bald sterben werden."

„Nein", widersprach mir die Rothaarige bestimmt. Mein Sarkasmus war anscheinend nicht gut angekommen. „Du bekommst diese Gelegenheit, weil du dich schlecht benommen hast und fast dein ganzes Leben lang nur auf andere hinab geblickt hast. Doch jetzt ist es an der Zeit, etwas für andere zu tun."

„Wie bitte?", sagte ich in scharfem Ton. Diese Frau hatte doch tatsächlich gerade gesagt, dass mein Verhalten in den letzten sechzehneinhalb Jahren verkehrt gewesen war.
Niemand der sechs Richter ging auf meine Reaktion ein. Deshalb wollte ich wissen: „Was soll ich denn jetzt tun, um meine angeblichen Fehler wieder auszugleichen?"
Bei dem Wort Fehler malte ich mit den Fingern Anführungsstriche in die Luft und rollte mit den Augen. Ich konnte einfach nicht fassen, was sie mir vorwarfen.

„Du wirst ein Schutzengel sein", antwortete mir Gregory.
„Ich werde was sein?"
„Ein Schutzengel", wiederholte Mary. „Du wirst auf jemanden aufpassen und ihn unterstützen, wenn er er Hilfe braucht."

Wie bereits festgestellt, war das zwar alles vollkommen verrückt, doch eine Stimme in mir wusste, dass es sich hier nicht um einen Traum handelte. Es ging ernsthaft um mein Leben.

„Na gut, für wenn soll ich denn den Babysitter spielen?", erkundigte ich mich.

Dylan O'Brien."

„Dylan O'Brien?", wiederholte ich lachend. Ungläubig fragte ich: „Der Dylan O'Brien? Der braucht sicherlich keinen, der auf ihn aufpasst. Der hat doch ein super Leben, oder etwa nicht?"

„Sein Leben war nicht immer so, wie du vielleicht denkst", wandte der Mann, mit zu viel Gel, ein. „Nicht immer hatte er Freunde und Erfolg. Du wirst ihm allerdings helfen."

„Ich?", hakte ich nach. „Ist das euer Ernst? Ich soll irgendeinem berühmten Schauspieler helfen beliebt zu werden? Habe ich das richtig verstanden?" Immer noch brummte mein Kopf und tausende Fragen plagten mich. Wie kann ich etwas ändern, dass bereits passiert ist? Welchen Unterschied sollte ich jetzt anstellen, wenn er Dylan O'Brien doch bereits alles erreicht hatte?
Gregory nickte. „So in etwa. In erster Linie sollst du für ihn da sein und ihm einfach zur Seite stehen, wenn er dich braucht."

„Fein", sagte ich resigniert, „und als Schutzengel brauche ich also eigentlich eine Art Ausbildung?"
Alle sechs nickten.
„Aber ich darf darauf verzichten, weil ich bald sterbe?"
Wieder kam die Bestätigung in Form einer Kopfbewegung.
„Na das ist ja wunderbar", gab ich mit einem Stöhnen von mir.

„Du wirst allerdings nur sterben, wenn du ihm nicht hilfst und auch nichts daraus lernst", ergänzte Gregory noch.
„Wie beruhigend", murmelte ich. „Woher soll ich wissen, ob ich etwas lerne, oder nicht?"
„Du wirst es einfach merken", meinte Gregory zuversichtlich. „Genauso wie du spüren wirst, wann es Zeit ist, zu gehen. Jeder wahre Engel merkt das."

Bei dem letzten Satz zwinkerte Gregory als sei er sich ganz sicher, dass ich es schaffen würde. Immerhin war einer von mir überzeugt und vermutlich war er mit dieser Ansicht auch der Einzige.

In der Hand des alten Weisen tauchte plötzlich ein dickes Buch auf. „Das ist das Schutzengel-Handbuch. Darin findest du alle Regeln, die du kennen musst, sowie Anweisungen für besondere Fälle."
Er warf es mir zu. Beim Auffangen zwang mich das Gewicht in die Knie. „Das nennt ihr ein Handbuch?", fragte ich keuchend.
Mary schnipste mit den Fingern und die fette Schwarte verwandelte sich in ein Buch normaler Größe. So konnte es tatsächlich als Taschenbuch durchgehen.

„Und jetzt los!", wies mich Mary an. „Deine Zeit läuft."

Schutzengel [Dylan O'Brien FF]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt