Gefühle

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Die Zeit verging, wie man es hätte erwarten können, in Zeitlupe. Immer und immer wieder ging ich im Kopf durch, wie ich ihr erzählen sollte, was ich kann. Oder zumindest, was ich vermutete zu können. Würde ich überhaupt in der Lage sein, es auf Kommando zu "beschwören"? Den Zusammenhang aus meinen bisherigen Erfahrungen mit... naja, meiner "Fähigkeit", zu ziehen war nicht sonderlich schwierig. Wut schien, der Auslöser zu sein, oder zumindest einer der Auslöser. Ich versuchte mehrmals, in mir Emotionen zu erzeugen, um zu sehen, ob es auch mit Freude, Trauer oder Angst funktioniert, indem ich mich in Situation hineinversetzte, die ich schon erlebt hatte, aber es zeigte keine Wirkung. Und Nervosität war anscheinend auch nicht in der Lage dazu, sonst hätte meine Hand schon die ganze Zeit über geglüht. Mit Wut war das etwas schwerer und ich wurde nie wirklich wütend.

Ich schloss meine Augen.
>Was macht mich wütend? Denk nach!!<
Es war einer dieser typischen Momente, wenn man zu sehr versucht, über etwas nachzudenken und am Ende in deinem Gehirn ein kompletter Stillstand erzeugt wird. Eine Leere. Ein Vakuum. Tatsächlich war genau dieser Gedanke der einzige, der mir in den Sinn kam.

"DSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSSST!!"
Ich habe das Geräusch von Türklingeln schon immer gehasst. Aber das liegt wahrscheinlich in der Natur eines jeden Menschen. Genau wie bei Weckern. Ich ging zur Tür, um zu verhindern, dass Nellie nochmal klingelt.

"Achja.. Nellie!", erinnerte ich mich. 
Ich hatte sie in meinem exzessiven Nichtsdenken beinahe vergessen. Ich wurde wieder Nervös. Ich entriegelte die Haustür im Erdgeschoss und öffnete die Tür. Es fühlte sich unglaublich merkwürdig an, im Türrahmen zu warten, während sie die Treppe zu unserer Wohnung hinaufging. Ich grüßte sie, in dem Moment, in dem sie hinter der Wendeltreppe zum Vorschein kam.

"Hey..." Ich grinste.
"Hey zurück.", sagte sie, während sie immer noch die Treppe hinaufging.

"Wie geht's?", fragte ich sie in die seltsame Stille, während sie sich ihre Schuhe auszog und sie vor der Tür abstellte.
"Geht.", antwortete sie und hielt vor mir an.
Ihre weiß gefärbten, leicht gelockten Haare trug sie offen. Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und schob diese hinter ihr Ohr. Das hat sie schon früher immer mit ihrer einen weißen Strähne gemacht, bevor sie sich entschloss, sie ganz zu färben. Ich hatte sie eine Zeit lang nicht gesehen und war überwältigt davon, wie viel schöner sie war, verglichen mit dem Bild, das ich in Erinnerung hatte.
"Ähhm.. lässt du mich auch rein?", fragte sie und fing an zu lächeln, nachdem ich ruckartig aus meiner Stasis erwacht war.

"'Tschuldige.", erwiderte ich.

Wir gingen in mein Zimmer. Die Gardinen waren noch geschlossen. Ich hatte wie immer am Morgen vergessen, sie zu öffnen und war verständlicherweise anderweitig beschäftigt, als dass ich daran gedacht hätte, es nachzuholen. "Besser spät als nie.", dachte ich. Ich öffnete die Gardinen. Es fing bereits an, dunkel zu werden.
"Also, was ist so wichtig, dass du mich um 21 Uhr noch vorbeikommen lässt?"
Ich war kurz überrascht von mir, dass ich nicht einmal auf die Uhrzeit geachtet hatte.
"Ist... schwer zu erklären.", sagte ich etwas zögerlich.

"Ich komm zwar auch gerne mal vorbei, um dich zu sehen, aber unendlich viel Zeit hab ich nicht." Sie sprach freundlich, auch wenn ich ihr ansah, dass sie etwas genervt von meiner Schüchternheit war, obwohl Schüchternheit nicht der Grund war, weshalb ich zögerte.
"Nagut, dann mach ich es so einfach, wie ich kann. Mach mich mal wütend. So richtig wütend."
Es war ein Notfallplan, aber der Beste, der mir einfiel.
"Äähm..." Sie überlegte kurz. Nach einer Weile sagte sie in einem schuldigen Ton: "Weißt du noch letztens, als du mich gefragt hast, ob ich weiß, wo deine von Stan Lee signierte Ausgabe von..."

"Neeeeee.", unterbrach ich sie und lachte. "Das kauf ich dir nicht ab. Obwohl du...  Nein." Ich war unschlüssig, jedoch wusste ich, dass ihr vieles zuzutrauen war.

"Ich habe sie auf Ebay gestellt um dir zu zeigen, dass sowas ja eh keiner kaufen würde. Nunja... ich lag falsch. Möchtest du das Geld haben? Vielleicht bekommst du ja.."
Mein Puls stieg.
"Das kauf ich dir echt nicht ab." sagte ich. "Sowas würdest du doch nicht tun." Ich lächelte sie an.
"Moment." entgegnete sie, während sie auf ihrem Smartphone rumtippte. Sie drehte den Bildschirm zu mir. Das war die Ebay Auktionsseite. Da war er. Mein signierter "The Avengers" Comic. Ich brauchte einen Moment um zu realisieren, dass das tatsächlich meiner war. Ich sah Nellie fassungslos an. Mein Puls stieg weiter. "Der Käufer heißt Wu Zijan, glaube ich. Anscheinend ein Japaner oder so. Der schickt mir den sicher nicht zurück."
"Du kannst das doch sicher noch rückgängig machen!?", fragte ich .
"Es ist schon seit einer Woche verkauft... Ich hatte nicht vor es dir zu erzählen, deshalb habe ich ihn so schnell wie möglich verschickt um ihn los zu werden." Sie lächelte mich seltsam verlegen an. "Es tut mir wirklich Leid, ernsthaft."
"Gott verdammte...." Ich hielt mich zurück, aber die Wut brodelte langsam in mir hoch.
Und da kam es wieder. Es erinnerte mich ein wenig an den Hulk, als meine Hand wieder anfing, das Leuchten auszusenden. Nellie starrte mittlerweile ebenfalls meine Hand an. Sie sah erstaunt aus, während sie sah, was aus meiner Handfläche aufstieg.
"Das ist wunderschön.", sagte Nellie, während sie mit aufgerissenen Augen den Orb anstarrte.
"Ich wollte es gerne jemandem zeigen, erzähl hiervon Niemandem! Ich brauchte jemanden, dem ich vertrauen kann. ", flüsterte ich ohne erkenntlichen Grund.
Ich dachte kurz nach, während ich Nellie zusah, wie sie überwältigt von dem Licht dastand. Dann kam mir die schlechteste Idee, aller Zeiten: "Moment. Wenn ich schon Geheimnisse offenbare die von Superkräften handeln, dann wird sie doch so eine Liebeserklärung locker verkraften."
"Ach und... jemanden, den ich liebe.", sagte ich und ich hasse mich noch heute dafür. 
Nellie hatte sich mittlerweile wieder im Griff. Sie sah mir tief in die Augen. Schneller, als ich reagieren konnte, lehnte sie sich nach vorn und küsste mich. So langsam bekam ich das Gefühl, all die schicksalhaften Ereignisse, die mir bisher in meinem Leben fehlten, passierten nun zur gleichen Zeit.
Ich schloss meine Augen und gab mich dem Moment hin, so lang er anhielt. Gefühlt saßen wir dort mehrere Minuten. Tatsächlich waren es wenige Sekunden. Nachdem sich ihre Lippen von meinen löste, lächelte sie mich an und sagte: "Das... wollte ich schon ewig machen. Ich erkläre es dir später. Komm mit."
Sie stand auf und reichte mir die Hand.
In diesem Moment wäre ich ihr überall hin gefolgt. Aber sie ging nicht dahin, wo ich hin wollte. Sie zog sich ihre Jacke an.

UnbestimmtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt