Aller Anfang ist genau so schwer

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Ich fang mal ganz von vorne an.

Mein Name ist Lehonart. Ich bin mir sicher meine Eltern haben mich gehasst sonst hätten sie mir nicht so einen schrecklichen Vornamen gegeben. Zu meinen Eltern: Sie sind tot. Typischer Protagonist einer schlechten Geschichte, oder? War auch nur ein Scherz. Meine Mutter ist alleinerziehend, meinen Vater kannte ich nie.

Ich studiere Biochemie in einer Großstadt. Zumindest habe ich das getan, bevor... naja, früher eben. Ich bin Single, aber schon lange verliebt in meine beste Freundin Nellie. Sie hat leider einen Freund. Ich kann ihn nicht ausstehen. Naja, zurück zum wichtigen. Wie ihr euch sicher denken könnt, bin auch ich mit einer Fähigkeit ausgestattet. Mein Merkmal sind zwei zu einem großen X geformte Narben an meiner rechten Handfläche. Da ich die Narben schon solang ich denken kann habe und meine Mutter immer gemeint hat, ich hätte diese Narben von Glasscherben, habe ich sie nie weiter beachtet. Vor einem Jahr habe ich dann etwas erlebt, das mein Leben für immer- bla bla bla dieser Satz ist komplett abgenutzt. Mein Leben ist jedenfalls komplett zer*#$%t worden.

Ich meine natürlich "zerstört". Was dachtet ihr denn Obszönes?

Es war abends, irgendwann im Frühling. Der Wind wehte. Ich war nach meinen Vorlesungen nach Hause gegangen, weil ich mein Kleingeld für den Bus in einem Snackautomaten für einen Snickers-Riegel ausgegeben habe.  (Im Nachhinein betrachtet nicht die beste Entscheidung meines Lebens.) Ich aß schnell, hane kein Mittagessen gehabt. Meine Route führte mich durch das schäbigste, verwinkeltste Viertel der Stadt. Ich hab schon viel davon gehört, dass dort die Kriminalitätsrate sehr hoch sein soll, aber ich hätte nicht damit gerechnet, dass mir dort etwas passieren würde. Als ich meinen Snickers weiter aus der Verpackung schob, um wieder abzubeißen, stand plötzlich ein Mann vor mir. Er war aus einer kleinen Nebengasse gekommen und starrte mich an. Als ich versuchte ihn zu umgehen, stellte er sich wieder vor mich, packte mich an der Schulter und warf mich mit einer Kraft, die ich einem anscheinend Obdachlosen nie zugetraut hätte, in die Gasse. Ich sah kein Messer in seiner Hand, aber das war mir in dem Moment egal, in dem er eine spitz zulaufende Klinge der Länge einer Machete an meinen Hals hielt.

"Geld und Handy her!", brummte er und spuckte neben mir auf den Boden.

"If hap 'ein 'Eld", versuchte ich zu erwidern, den Mund voll mit Schokolade und Erdnüssen, nicht zu schweigen von dem Karamell, das mir den ganzen Mund verklebte.

"Versuch lieber nicht mich zu verarschen!", sagte er in einem aggressiven Tonfall. "Geld. Und. Handy. Her!"

"Cyan.", sagte eine Stimme.

"Cyan?", fragte ich. Mittlerweile hatte ich den größten Teil des Snickers geschluckt, ohne die Nüsse zu zerkauen, aber als ich erwidern wollte, weiteten sich plötzlich die Augen des Mannes und er kippte auf mich. Eine riesige Schnittwunde klaffte auf seinem Rücken. Dort, wo er gestanden hatte, war nun ein Mann, gehüllt in einen schwarzen Umhang. Eine Waffe, die solch eine Verletzung zufügen könnte, hatte er nicht, doch ich erkannte, dass etwas aus seinem Ärmel tropfte. Es war zu dunkel, um sein Gesicht zu erkennen und als ich merkte, dass er sich umwandte zum Gehen stieß ich schnell den Obdachlosen von meinen Beinen. Dabei berührte ich das Blut an seinem Rücken und meine rechte Handfläche fing an wie verrückt zu brennen, als wären meine Narben offen und jemand kippte ein Gemisch aus Salz und Zitronensäure darüber. Ich drehte meine Hand um und sah das Glühen. Dieses wunderbare, dunkellila Glühen. Es faszinierte mich so sehr, dass ich den Schmerz und alles Andere um mich herum vergaß und erst, als es nach und nach schwächer wurde, fiel es mir auf. Weder an mir, noch an dem Mann, der leblos neben mir auf dem Boden lag, war auch nur ein Tropfen Blut zu sehen war. Ich sah mich irritert um. Es war, als hätte ich die Nacht einfach übersprungen, denn die Sonne schien und auf der Straße, von der die Gasse abging, liefen hektisch Geschäftsleute vorbei. Mühsam stemmte ich mich hoch. Der tote Mann lag noch immer neben mir. Dass uns niemand gefunden hatte, wunderte mich, aber ich war viel zu beschäftigt damit, mit meinen eingeschlafenen Beinen aus der Gasse zu torkeln und die Situation zu verstehen, deshalb war der Obdachlose erstmal unwichtig.

"Cyan." sagte die Stimme.

Ich sah mich irritiert um. Die Gasse hinter mir war leer und die Geschäftsleute liefen nur zügigen Schrittes weiter.

Ich machte mich also auf den Weg nach Hause. In Gedanken versunken und meine Hand betrachtend lief ich gegen einen Laternenpfahl. Eine Gruppe Jugendlicher denen man ansah, dass sie eigentlich in der Schule sein sollten, lachten mich aus. Ich wurde wütend und ging auf sie zu.

"Habt ihr nichts Besseres zu tun, als hier zu rauchen?" fragte ich.

"Boah, ist das dein Problem, du Opfer?" erwiderte einer der Jungen. Er trug eine Cap, schräg nach hinten gedreht. Ich verstehe bis heute nicht, was daran so cool sein soll. Seine offenbare Dummheit schürte meinen Zorn ein wenig. Unbewusst öffnete ich meine rechte Hand. Dass diese wärmer wurde, hielt ich derzeit für eine Folge meines erhöhten Blutdrucks durch die Wut, die sich in mir aufbaute.

"Cyan." sagte die Stimme.
Auch sie machte mich wütend. 

"Dreh mal deine Cappie richtig, das sieht behindert aus." fuhr ich den Jungen an. Er starrte mir in die Augen. Sein Blick wurde schlagartig von "Ich hau dir auf die Fresse", was ich auch von ihm erwartete, zu einem gelassenen, erschrockenen Gesichtsausdruck, als hätte man ihn soeben erleuchtet. Er drehte seine Cappie nach vorne.
Ich war baff.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, ging ich weiter. Auch die Jungs waren erstaunt darüber, wie gefügig er mir gegenüber war und hinter mir hörte ich, wie sie sich nun über ihn lustig machten. Das nennt man wohl Karma.

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