Unbestimmt

Erstschlag

Wir gingen an den Hafen. Der Wind, der schon den ganzen Tag herrschte war stärker, als zuvor. Wir liefen nur nebeneinander an der dunklen, von halbkaputten Straßenlaternen spärlich beleuchteten Promenade entlang. Ich wusste nicht, wohin sie mich führte. Wir hatten den Weg bisher kein Wort miteinander gesprochen. Ich fühlte mich großartig. Ich wusste noch nicht, wie sie es ihrem Phil erklären würde, aber ich war zu euphorisch, um darüber weiter nach zu denken. Ich versuchte stattdessen eine Konversation zu starten.

"Du?" sprach ich den besten Eisbrecher, den es gibt, gegen den Wind, der uns frontal erfasste. 
Ich wartete eine Weile, während wir weiter liefen.

Ich überlegte, ob sie mich gehört hatte und mich nur ignorierte, oder ob der Wind alles verschluckt hatte.  Ich fragte mich, ob es merkwürdig wäre, noch einmal "Du" zu sagen, wenn sie mich dann doch gehört hätte. Ich blieb auf der sicheren Seite und sagte nichts.

Wir gingen weiter, stillschweigend.

Wir waren mittlerweile in dem breitem Tunnel, der unter der Haupstraße entlang führte. Da kaum Autos zu hören waren schloss ich, dass  es gegen Mitternacht sein sollte.  Am Anfang des Tunnels blieb sie stehen. Sie drehte sich um und hob eine Strähne der Haare über ihrer linken Schläfe an. 

"Erinnerst du dich, als ich nur eine weiße Strähne hatte?", fragte sie mich.
"Natürlich. Du hattest sie dir nach deinem Unfall eingefärbt. Sie stand dir gut.", erwiderte ich.
"Ich habe sie mir nie gefärbt.", sagte Nellie. "Bei meinem Unfall wurde mein Gehirn durchbohrt. Es war ein Wunder, dass ich noch lebte, geschweige denn mich bewegen konnte. Irgendwann kam eine Krankenschwester nach der Operation um den Verband zu wechseln und sah, dass meine Wunde komplett verheilt war. Es hatte sich dort, wo die Operationsnarbe sein sollte, eine weiße Hautschicht gebildet, die wie gewohnt einen Knochen darunter hatte. In den folgenden Tagen wuchsen meine Haare an der Stelle nach, nur war sie nicht braun, sondern weiß. Nach einer Woche war die weiße Strähne auf der Länge der restlichen Haare. Ich wurde kurz darauf aus dem Krankenhaus entlassen. Bis heute weiß ich nicht, wieso meine Genesung kein großes Aufsehen erregt hat. Mit 12 fand ich dann heraus, dass und wie ich meine Strähne bewegen kann. Damit keiner mehr an meine Strähne denkt, färbte ich mir die gesamten Haare weiß. Und Phil war bis jetzt der einzige andere, den ich kenne, der wie ich ist."

"Moment.", unterbrach ich sie. "Du kannst deine Haarsträhne... bewegen? Und Phil auch? Phils Haare sind doch braun und nicht weiß und außerdem recht kurz."

"Dazu wollte ich gerade kommen.", unterbrach sie nun mich. "Phil hat doch diese Narbe an seinem Unterarm. Bei ihm war nach einem Motorradunfall sein Arm gebrochen und nach einer Operation war alles, was blieb, seine Narbe. Der Arm war nach einer halben Woche auch wieder komplett belastbar. Und auch die Röntgenbilder zeigten nichts ungewöhnliches in seinem Arm. Aber aus seiner Narbe wachsen keine Haare, dafür jedoch Klingen. "
"Dein Freund ist Wolverine?", fragte ich verwirrt. "Ich fühle mich stark übertrumpft von diesen offenbar viel nützlicheren "Superkräften".". Ich lächelte verlegen. 
"Das hier ist kein Comicheft, Leho.", sagte sie nüchtern. "Jedenfalls hatte ich schon damals beschlossen, als ich dich kennen lernte, die Freundschaft mit dir aufrecht zu erhalten, weil ich insgeheim hoffte, du hättest auch so eine Gabe wie ich. Als ich dann irgendwann merkte, dass du anscheinend wirklich nur zwei Narben an der Hand zu haben scheintest, gab ich auf und suchte woanders nach ähnlichen Narben. So traf ich auf Phil und ich dachte nun mal, er wäre der Einzige, der mich jetzt noch verstehen könnte. Ich habe mich mittlerweile an ihn gewöhnt, aber ihn lieben würde wirkliche "Superkräfte" erfordern. Aber jetzt, wo du letztendlich doch wie ich bist...."
Ich glaubte Nellie nicht, dass das hier nicht nur ein Traum, oder eine Geschichte war. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Sie kam mit ihrem Kopf immer näher.
"Muss ich dich wohl töten."