1 - Schlimme Zeit

644 37 1
                                    

Ju
Ich sah in den Spiegel und erschrak. Augenringe bis auf den Boden, meine Augen selbst waren knallrot. Vom Weinen, vom Rauchen und vom Schlafmangel. Die letzten Wochen hatten mich zu sehr mitgenommen. Ich hatte seit einem Monat nichts mehr auf Youtube hochgeladen, und die Kommentare meines letzten Videos wurden immer beleidigender. Jedoch hatte ich keine Kraft, mich vor die Kamera zu setzen. Nicht wie ich aussah, und nicht so, wie es mir ging. Ich konnte schon stolz sein, dass ich mich zum ersten Mal seit vier Tagen mal wieder weiter als bis zum Kühlschrank fortbewegt hatte. Doch heute musste ich aufstehen. Heute war ein besonderer Tag. Unser Jahrestag. Unglaublich, dass wir schon ein ganzes Jahr zusammen waren. Meine Fiona und ich. Sie war das einzige, was mich davon abhielt, mich nicht einfach vor den nächsten Zug zu werfen. Sie half mir, kümmerte sich um mich, versuchte mich aufzumuntern. Sie blieb bei mir, obwohl es mir so schrecklich ging und obwohl ich ihr in dieser Zeit so zur Last fiel. Ich liebte sie so sehr. Und heute wollte ich sie überraschen.
Während ich mich weiter im Spiegel musterte und versuchte, mir die lange nicht geschnittenen Haare einigermaßen zurechtzumachen, ordnete ich die Ereignisse des letzten Monats.

Alles fing damit an, dass ich den Anruf von meiner Familie bekam. Ein großes Erdbeben hatte dafür gesorgt, dass unser Haus und das ganze Dorf zerstört wurde. Meine Oma wurde von einem Gesteinsbrocken erschlagen, meine Mutter lag schwer verletzt im Krankenhaus und meine Cousine und meine Tante wurden seit einem Monat vermisst. Alle hatten die Hoffnung aufgegeben, dass sie noch lebten. Viele meiner alten Freunde und Nachbarn sind tot. Ich habe mich sofort in das nächste Flugzeug nach Singapur gesetzt, als mich mein Vater anrief. Und was ich sah, war wirklich schlimm. Von meinem einst noch so vertrautem Heimatdorf war nichts weiter mehr übrig, als ein großer Haufen Trümmern, weinende Menschen und bestenfalls ein Paar Ruinen.
Als ich wieder hier in Köln war, passierte das nächste Unglück. Beim Longboarden wurde ich von einem Auto angefahren. Zum Glück nicht schlimm, sodass ich mir nur zwei Rippen geprellt, und das Handgelenk gebrochen hatte. Für einen Autounfall nicht schlimm. Jedoch konnte ich mit diesen Verletzungen nicht mehr breakdancen, um mich irgendwie von dem Verlust meiner Verwandten und Freunde abzulenken. Ich hatte nach einer anderen Möglichkeit gesucht, der Trauer zu entfliehen. Irgendwann hab' ich dann mit dem Rauchen angefangen.
Nicht mal eine Woche später, erfuhr ich von Cheng, dass die Apes nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Als ich ihn fragte, wieso, meinte er, ich hätte mich verändert. Natürlich hatte ich das! Meine halbe Familie ist verschollen oder tot! Soll ich vielleicht weiter munter durch die Gegend hüpfen und FRESH schreien, als wenn nichts passiert wär?! Das machte mich so wütend, dass ich Cheng rausschmiss. Er ist immer noch sauer, und er hat es auch den Apes erzählt. Jan hatte mich hinterher angerufen und mir gesagt, dass er die Aktion echt mies fand und sie alle erstmal nichts mehr mit mir zu tun haben wollten. Ich verstehe immer noch nicht was mit ihnen los ist. Wütend biss ich die Zähne zusammen. Argh.
Joon und Vince waren vor zwei Wochen ausgezogen, da sie sich vor einiger Zeit als schwul geoutet hatten und mir mitgeteilt hatten, dass sie jetzt ein Paar waren und zusammen ziehen würden. Ich hatte nichts gegen Homosexualität und freute mich total für die beiden. Trotzdem war ich traurig, dass sie ausgezogen waren. Meine besten Freunde. Sie wohnten nun nicht mehr in Köln sondern etwas außerhalb, etwa eine halbe Stunde von hier. So sah ich sie natürlich auch nicht mehr so oft wie früher. Der einzige meiner Freunde, der immer noch voll und ganz zu mir hielt, war Viktor. Klar, Joon und Vince auch, aber die waren im Moment - frisch verliebt wie sie waren - mehr mit sich selbst beschäftigt.
So viel zu der mehr oder weniger qualvollen Zeit des letzten Monats. Ich hatte mich hin und wieder aufgerafft, um einkaufen zu gehen. Oder besser gesagt, um Alkohol und Energy-Drinks zu kaufen. Dann das Rauchen. Ich wusste selbst, dass ich damit aufhören musste, aber ich sah einfach keine andere Möglichkeit. Wenigstens konnte es nicht mehr schlimmer kommen. Das dachte ich zumindest.

Doch dann kam sie.. - Julien Bam FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt