Kapitel 1

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Die Zeit verstrich nur sehr, sehr langsam. Minuten kamen mir vor wie Stunden, Sekunden wie Minuten.
Mein Kopf fühlte sich an diesem Tag mal wieder besonders schwer an und es war nur möglich ihn oben zu halten, indem ich ihn mit den Ellenbogen stützte. Vielleicht lag es auch daran, dass ich erstens müde, zweitens gelangweilt oder drittens einfach nur schwach war.
Seit Anfang des Semesters an der University of Miami war das immer so. Die Stadt war zwar wunderschön, aber seitdem ich hier wohnte zwang ich mich die meiste Zeit von einer in die andere Vorlesung und setzte nach jedem erfolgreichen (oder weniger erfolgreichen) Tag ein Haken in meinen hellrosa, bereits komplett vollgekritzelten Terminplaner. Deprimierend war aber leider nur, dass uns noch immer viel zu viele von diesen Tagen bevorstehen würden.
Vor ein paar Monaten hatte ich mich, mehr oder weniger auf den Wunsch von Dad hin, dazu entschlossen Maschinenbau zu studieren, wenn auch eher unüblich für ein Mädchen.
Trotzdem war ich abgesehen davon eine ganz durchschnittliche Studentin: Ich hatte dunkle Augen und lange, glatte, braune Haare, die ich meistens offen oder als Pferdeschwanz trug. Ich war gerade volljährig geworden, hatte den ersten Kuss mit dreizehn und das erste Mal circa drei oder vier Jahre später.
Ich trug Körpchengröße B (ist das jetzt zu intim?), war genervt von allen männlichen Geschöpfen, die mir zu nahe treten (was eine große Herausforderung bei diesem Studiengang darstellte!) und dementsprechend single. Ich liebte es shoppen zu gehen, mir die Nägel zu lackieren und mit meinen Mädels zu lachen.
Falls ich mich körperlich in der Lage fühlte etwas Sport zu treiben, besuchte ich den Volleyballkurs an den Mittwoch- und Freitagabenden, aber das wurde von Woche zu Woche weniger. Meistens dominierten dann doch die Homepartys mit meinen Freunden, die Lernerei oder die ruhigen Abende vor dem Fernseher.
„Leila, wollen wir nachher was zusammen machen?“. Paula stupste mich vorsichtig von der Seite an und lächelte. Sie trug das blaue „I need weekend“ T-Shirt, welches mit meiner Laune komplett übereinstimmte.
Ich warf nochmal einen Blick auf die Uhr (die Zeit war gefühlt stehen geblieben!) und rechnete mir aus, wann ich zuhause sein würde und wie lange ich für die To-Do-Liste des heutigen Tages brauchen würde.
Auf der Liste stand die letzten Bewerbungen für ein Pflichtpraktikum in ein paar Wochen schreiben, duschen, Maniküre, Dad anrufen und ihm versichern, dass es mir gut geht (ob es das wirklich tut, weiß ich nicht so genau) und ach ja, ich hatte ja Einkaufsdienst.
„Ja klar“, antwortete ich schließlich trotzdem. „Wird schon irgendwie klappen. Kommst du in der WG vorbei?“. Paula nickte und dann ließ ich meinen Blick wieder über den großen, kahlen Vorlesungsraum schweifen, der allerdings nur halb gefüllt war. Kein Wunder.

 In der Mittagspause hatten Paula, Sam und ich uns ein wenig von den anderen abgeschottet und warteten auf die bestellte Partypizza. Die beiden teilten zwar nicht unbedingt die Meinung mit mir, dem extrem hohen Anteil von Jungs entkommen zu müssen, aber sie brauchten trotzdem ein bisschen Ruhe.
Wir saßen ein paar Meter von der Cafeteria entfernt auf dem frischen Frühlingsgras, hatten die Picknickdecke ausgebreitet und den von Sam zubereiteten Kaffee gerecht aufgeteilt.
Paula und Sam waren meine besten Freundinnen an der University. Sie studierten dasselbe wie ich und so hatten wir uns natürlich auch kennengelernt. Außer ihnen hatte ich abgesehen davon sowieso nicht die große Auswahl, wenn ich Jungs umgehen wollte.
„Geht ihr am Freitag auf Collins Geburtstagsparty?“. Sam zog sich ihre neue Pilotensonnenbrille auf, lehnte sich entspannt zurück an einen Baumstamm hinter ihr und genoss die wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch das dichte Grün des Parks drängten. Ihre beinahe pechschwarzen, lockigen Haare glitzerten jetzt ein bisschen.
Paula bejahte ohne groß darüber nachzudenken, aber ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe eigentlich nicht so Lust auf die ganzen Spasten. Außerdem wollte ich mal wieder ins Training.“
„Keine Ausrede, Leila! Du gehst doch sowieso nicht zum Sport.“ Sam grinste. Verdammt, warum kannten sie mich nach so kurzer Zeit schon so gut? „Bitte komm mit, wird sicher cool!“.
„Ich weiß nicht“, sagte ich, und wechselte dann schnell das Thema, als ich den Pizzaboten auf uns zu schlendern sah. „Essen ist da!“. Erleichtert und hastig zugleich stand ich auf, schnappte mir den Geldschein und nahm die Pizza mit Schinken und Champignons in Empfang.
Der Pizzabote war der Gleiche wie die letzten Male, groß und kräftig mit einem schrecklichen Tattoo von den Black Eyed Pease auf dem Oberarm. Er kannte uns schon gut genug, um zu wissen, dass er uns nicht am Haupt-, sondern Hintereingang bei dem Park finden würde.
Nachdem ich mich höflich bei ihm bedankte und bezahlt hatte, sprintete ich mit der Pizza im Arm zurück zu unserem Platz, als würde ich mich einem Wettbewerb ausliefern. Ich hatte wirklich schrecklichen Hunger, weil ich das Frühstück am Morgen ausfallen lassen musste, da ich mal wieder verschlafen hatte.
Als ich mich setzte, warfen Paula und Sam mir skeptische Blicke zu. „Ist was?“. Ich musste lachen, strich mir eine Strähne aus dem Gesicht und öffnete den Pizzakarton. Der Geruch von meinem Lieblingsessen stieg mir sofort in die Nase.
„Glaub ja nicht, du kommst aus dieser Sache so einfach raus“, erklärte Paula, und griff nach einem großen Stück mit besonders viel Schinken. „Du musst unbedingt zu dieser Party kommen. Sind auch ein paar nette Leute da - vor allem Finn, er ist sooo süß.“
Sie setzte wie jedes Mal diesen verliebten Blick auf, wenn sie von Collins besten Kumpel sprach. Seit sie das letzte Mal bei einem Rugbyspiel kurz mit ihm geflirtet hatte, gab es kein anderes Thema mehr für sie. Es konnte mir wirklich die letzten Nerven rauben!
„Na, dass ist ja die Hauptsache!“, entgegnete ich ironisch, aber man konnte mich wegen dem Kauen der Pizza kaum verstehen. „Ich sehs schon kommen, ihr macht nachher mit irgendwelchen Tpen rum und ich sitze gelangweilt in der Ecke und warte, bis die Party endlich wieder vorbei ist.“
„Leila!“. Ich wusste, dass Sam wieder mit ihrer Moralpredigt angefangen hätte, hätte es nicht zur nächsten Vorlesungsstunde geklingelt.
Erleichtert darüber, mir nicht wieder anhören zu müssen, wie toll Jungs sein können und wie scheiße es doch eigentlich ist single zu sein, stand ich auf, entsorgte den leeren Pappkarton im Mülleimer rechts neben mir und schlenderte, dicht gefolgt von Paula und Sam, Richtung Gebäude.

Nobody is perfectWo Geschichten leben. Entdecke jetzt