Finsternis

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Völlig aufgelöst sperrte ich die Tür zu unserer Wohnung auf. Gerade wurde mir im Krankenhaus mitgeteilt, dass meine Mutter wohl nur noch einige Tage zu leben hatte. Der Krebs gewann an Überhand und nun wird sie fast ausschließlich von Maschinen am Leben erhalten. Nur noch ein Wunder könnte sie retten. Aber so etwas war wohl kaum möglich. Sogar mein Vater hatte nun komplett die Hoffnung aufgegeben.
Fast reglos lag er am Boden seines Arbeitszimmers. Um ihn herum unzählige Flaschen von verschiedensten Spirituosen. Manche sogar noch halbvoll. Ich kniete mich neben ihn und versuchte ihn aufzuwecken, indem ich an seiner Schulter rüttelte. Stöhnend drehte er sich auf den Rücken, während ich seine Flaschen aufsammelte. "Du trinkst dich noch tot, wenn du so weiter machst." Verwirrt schaute er mich an. Sein von Tränen getrübter Blick brach mir beinahe das Herz. Ich wusste nur zu gut, was für eine schwere Zeit das für ihn war. Auch für mich, aber jemand musste stark genug für uns beide sein und seinen Kummer hinunterschlucken. "Phia... ist.. ist sie..." Ich wusste sofort, was er versuchte mich zu fragen. Auch wenn es mir schwer fiel, zwang ich mich dazu den Tränen dieses Mal fern zu bleiben. Zu viele hatte ich davon in den letzten Monaten verbraucht. "Es geht ihr immer schlechter. Sie wird die kommende Woche wohl nicht mehr erleben. Es tut mir leid." Entgeistert starrte er mich an, obwohl er schon damit gerechnet hatte. Niemand glaubte mehr daran, dass sie eines Tages wieder putzmunter vor uns stehen könnte. Die Ärzte hatten die Hoffnung schon vor einigen Wochen aufgegeben. Und wenn selbst sie nicht mehr daran glaubten, wer sollte es dann tun?
Reglos und ohne jegliche Emotion lag er auf dem klebrigen Parkett und starrte die Decke an. Ich machte mir zunehmend Sorgen um ihn. Mir war klar, dass er ihren Tod nicht verkraften würde. Er war nur noch ein Schatten seiner Selbst. Wie gern würde ich ihm mitteilen, dass alles gut wird, ihn wieder lächeln sehen. Alles würde ich dafür tun, um ihn aus diesem tiefen Loch herauszuziehen.

"Es war nur ein Traum." Etwas verwirrt blickte ich auf ihn herab. "Von was redest du?" Auf einmal stand er auf und schaute mir direkt in die Augen. Ich erkannte blanke Angst, als ob er dem Teufel persönlich in die Augen gesehen hätte. "Er war hier. Das brennende Kreuz, die roten Augen... du!" Völlig außer sich drehte er sich um die eigene Achse und suchte dabei den Raum ab. Vorsichtig legte ich ihm eine Hand auf die Stirn. "Du bist ganz heiß. Komm, ich bring dich ins Bett. Ruh dich erstmal aus." Behutsam legte ich seinen Arm um meine Schultern, um ihn zu stützen und brachte ihn in sein Schlafzimmer. Wie von selbst, ließ er sich in die weichen Federn fallen und schlief sofort ein. Bevor ich den Raum wieder verließ, deckte ich ihn noch zu und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.

Als ich die Tür hinter mir schloss, bemerkte ich das fehlende Licht am Flur und in der ganzen Wohnung. Nicht nur, dass es gerade erst elf Uhr mittags war und es daher taghell sein müsste, auch die Lampen ließen sich nicht einschalten. Ich ging weiter in die Küche, auch hier funktionierte nichts. Vielleicht ein Stromausfall? Wäre gut möglich, doch davon hätte unser Vermieter etwas erwähnt und das Wetter ist, bis auf die zunehmende Dunkelheit, auch ok. Ich stellte mich vor das Fenster und sag mich um. Keine Menschenseele befand sich auf der Straße. Keine Autos oder andere Verkehrsmittel waren zu sehen. Einfach nichts. Nichts außer ein dunkler Schleier, der sich über die kleine Stadt legte und immer näher kam. Mit einem Mal wurde mir eiskalt und ich schlang meine Arme um meinen frierenden Körper. Ich weiß nicht, was hier vor sich ging, aber es fühlte sich nicht gut an.

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Dort stand sie und suchte in der Finsternis eine Erklärung für diese Geschehnisse. Niemals hätte sie ihren Vater so liebevoll behandelt, hätte sie gewusst, was er getan hatte. Hassen würde sie ihn dafür. Ihm alles Leid der Welt wünschen und doch würde sie ihn bewundern dafür, dass er eine solch enorme Entscheidung getroffen hatte. Ein Mann, der seine einzige Tochter verkauft hatte, nur um seine Liebste zu retten. Wäre Shakespeare noch am Leben, hätte er daraus bestimmt eine fesselnde Liebesgeschichte daraus gemacht.
Ich stand direkt hinter ihr, strich ihr über ihre zitternden Arme und sie bemerkte es nicht einmal. Ich fühlte, wie ihre Angst immer größer wurde. Sie verstand nicht was hier gerade geschah und das war auch gut so. Ich habe schon Menschen gesehen, die sich selbst töteten, weil die Angst ihr ganzes Leben beherrschte.
Aber sie war anders. Sie würde Todesangst haben und trotzdem nicht aufgeben. Aber ich werde sie brechen, so wie ich bis jetzt jeden gebrochen habe. Und ich werde es genießen.
Fast schon entkam mir ein lustvolles Knurren. Meine Brüder werden es versuchen zu verhindern, doch dieses Mal werden sie mich nicht aufhalten.
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Ein Augenzwinkern später war alles wieder wie vorher. Die Finsternis verschwand allmählich, die Lichter funktionierten wieder und auch der Mann, den Ophelia die ganze Zeit über nicht bemerkt hatte, war verschwunden. Verwundert blickte sich das Mädchen um. Noch war ihr nicht bewusst, dass das erst der Anfang von etwas viel Mächtigerem war und nun der letzte Tag ihres bisherigen Lebens beginnen würde.

It Snows In Hell Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt