Kapitel 6

288 47 22
                                    

Seelenreißer. Lange war es her, dass mich jemand bei diesem Namen genannt hatte. >>Eine Frage noch, Söldner. Warum hast du vorhin deine Kameraden getötet?<< >>Es sind niemals meine Kameraden gewesen. Sie hatten ihre Seelen schon lange der Dunkelheit verschrieben und die Welt ist ohne Ihresgleichen besser dran.<< Ich nickte langsam. Das konnte ich Akzeptieren.

Hätte er diejenigen, welche sich auf ihn verlassen hatten, ohne Grund, nur für ein wenig mehr Stärke geopfert, hätte ich keine Gnade walten lassen können. So aber verstand ich ihn. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, ich hätte nicht anders gehandelt. >>Nun denn<<, sprach mein Gegenüber, >>Ich wünsche euch der Götter Segen auf euren Wegen.<< Mit diesen Worten verschwand er in der Nacht.

Noch lange, nachdem der Seelenfänger gegangen war, stand ich an Ort und Stelle und beobachtete in Gedanken versunken den nächtlichen Himmel über mir. Hoffnung. Das war das Wort gewesen welches der Söldner benutzt hatte. Sollte ich wieder in die Welt zurückkehren, aus welcher ich mich eigentlich für immer verabschiedet hatte? Doch wozu? Was kümmerte es mich, was mit dieser Stadt, dem Land oder den Leuten geschah?

Von solchen Gedanken aufgewühlt, machte ich mich auf den Heimweg. Auf mich wartete zwar nur eine kleine, gemietete Kammer im Dachgeschoss eines Mietshauses, doch von allem in der Welt war dies doch das, was ich am ehesten ein Zuhause nennen konnte. Als ich am Tempel von Navaris vorbei schritt, fiel mir auf der untersten Stufe der Treppe, welche ins Tempelinnere führte, eine in einen zerlumpten schwarzen Umhang gehüllte Frau auf.

Seltsam. Schwarz war zwar die Farbe der Tempeldiener, doch für eine Priesterin war der Mantel bei weitem zu schäbig. Egal. Ich hatte anderes im Kopf als irgendwelchen Bettlern Beachtung zu schenken. Doch ehe ich an ihr vorübergegangen war, blickte sie auf und sprach mich an. >>Wartet Ser! Bitte! Eine Krone, damit ich mir etwas zu Essen kaufen kann. Und zudem erhaltet ihr einen Rat. Es wird euer Schaden nicht sein!<< Zögernd hielt ich inne.

Ich hielt nicht viel von Bettlern und Schnorrern, doch etwas an dieser Frau war anders, als bei dem gewöhnlichen Gesindel, welches sonst die Straßen von Averon besiedelte. Ich seufzte und wandte mich zu der Frau um, die mich, wie ich nun erkannte, aus leeren, blinden Augen ansah. Woher hatte sie bloß gewusst, dass ich ein Mann war? Sie hatte mich zielgerichtet mit „Ser" und nicht mit „Sera" angesprochen, doch auch nach einem zweiten kritischen Blick meinerseits änderte sich nichts. Die Frau war zweifelsfrei blind.

Etwas ergrimmt lies ich eine Krone in ihre nahezu leere Bettelschale fallen. Das klirren des Metalls auf dem harten Holz hallte weit in der stillen Nacht. Eine ganze Krone! Worauf hatte ich mich da schon wieder eingelassen. So eine Münze hatten die meisten Bewohner der Stadt wahrscheinlich noch nicht einmal in den Händen gehalten so viel war sie Wert. Und ich hatte sie soeben an irgendeine dahergelaufene Bettlerin abgetreten. Wunderbar.

>>Nun, wie Lautet dein Rat für mich, Frau?<<, fragte ich ungeduldig. Es war wirklich spät geworden und ich hatte den Schlaf dringend nötig. Die Bettlerin sah auf und in ihren Augen war nun keine Leere mehr, sondern das silbrige Schimmern des Mondes in der Nacht zu sehen. >>Wenn der Ruf des Falken ertönt, sei auf der Hut. Und wenn du jemals die Nacht nicht mehr erkennen solltest, dann kehre um und sieh nicht mehr zurück.<< >>Ihr redet wirr, Frau, was soll das bedeuten? <<, zischte ich.

Doch ich sollte keine Antwort mehr auf meine Frage erhalten. Vor mir schimmerte nur noch der kalte, leblose Stein der Tempeltreppe im Licht des Mondes.

SeelenreißerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt