Extrabrief

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An Vorher,

Ich sehe an mir runter.
Und ich sehe Narben, Farben, und Erinnerungen.
Ich sehe an mir runter.
Und ich sehe Wunden, Flecken, Kenntnisse.

Ich sehe in den Spiegel.
Und ich sehe Schmerz, Schwäche, Blässe.
Ich sehe in den Spiegel.
Und ich sehe Fremde, so viel Fremde.

Ich sehe auf meine linke Hand.
Als ich kleiner war, dachte ich oft über meine linke Hand nach. Ich fragte mich, ob ich sie denn nicht vernachlässigte, wenn ich mit rechts besser klar kam.
Aber meine linke Hand spielt auch eine große Rolle. Denn jetzt ist sie beschädigt. Weißes Verband ist dick um meine Hand gebunden, Schmerz bei jeder Regung. Meine linke Hand war immer da, ohne das ich es bemerkte. Und jetzt, wenn ich sie nicht bewegen kann, jetzt erst merke ich wie sehr ich sie brauche.
Ich brauche eine linke Hand genau so sehr, wie ich auch Veränderung brauche.

Mein Blick hebt sich auf meine Schulter.
Noch nie war ich mir so bewusst über Berührung anderer Menschen dort. Wenn sie dich trösten wollen, tätscheln sie deine Schulter. Wenn dir kalt ist, fangen sie an dich an den Schultern zu wärmen. Wenn sie dich bloß begrüßen wollen, legen sie als erstes die Hand ein wenig über dein Schlüsselbein, auf deine Schulter. Und wenn sie dich umarmen, drücken sie sich an sie, um dir so nahe wie möglich zu sein.
Jetzt schmerzt sie. Sie schmerzt bei jeder Regung, und ist übersät mit blauen Flecken.
Nie war ich mir Berührungen dort bewusst. Jetzt bin ich es, genau so wie ich mir einer Veränderung bewusst bin.

Mein linker Zeigefinger bahnt sich einen Weg zu meiner Schläfe.
Ich kann das getrocknete Blut unter meinem Finger spüren. Man hat es gesehen, als man mir die Strähne hinters Ohr schob. Man sah es, als man einen Kuss sanft auf meine Wange drückte. Man hat es gesehen als man während einer Umarmung an meinem Haar roch. Ich fühle das getrocknete Blut unter meinem Finger. Und genauso fühle ich, die steigende Sehnsucht nach Veränderung in mir.

Mein Blick wandert zurück zum Spiegel.
Auf meiner Nase ruht eine Brille. Ich nehme sie ab, erkenne nichts als Farben. Ich setze sie wieder auf, und erkenne mein Gesicht im Spiegel wieder. Ich sehe mit dieser Brille. Ohne sie sähe ich nicht den Schmerz in den Augen meiner Mitmenschen. Ohne sie erkenne ich das Morgenlicht der Sonne nicht. Ohne sie erkenne ich nicht die Liebe zwischen anderen. Mit ihr schon. Genauso wie ich mein Verlangen nach Veränderung erkenne.

Ich bin buchstäblich übersät mit Narben. Schwäche und Schmerz kennzeichnet sich bei jedem meiner Körperteile. Meine Augen sind müde, mein Verstand ist wach. Mein Haar fällt schlapp meine verletzten Schultern herunter. Ich sehe mich nicht mehr leben. Mein Körper arbeitet, und dennoch fühle ich mich tod.

Und dann frage ich mich, wann ein Mensch eigentlich lebt. Tut er es, nach seinem ersten Atemzug, oder dann, wenn er sieht wie er blutet.

Ich brauche Veränderung. Ich bin mir einer Veränderung bewusst. fühle die steigende Sehnsucht nach Veränderung. Erkenne mein Verlangen nach Veränderung.

Sie traten mit Füßen auf mich. Sie hassten mich.
Menschen wollen mich leiden sehen. Tag ein, Tag aus, macht ein Lächeln auf meinen Lippen sie aggressiv. Warum stehe ich noch wo ich stehe. Warum gehe ich nicht, für die Meinung anderer Menschen?
Weil ich auch Mensch bin. Weil ich auch Meinung besitze.
Wer behauptet eigentlich, das ein Einziger machtlos ist?
Wer hat eigentlich behauptet, das Amanda Todd zu dumm für genug Bleichmittel war?
Wer sagt, Laura Barns hätte sich nur wegen des Videos das Leben genommen?

Es sagen und behaupten die Leute. Denn vor denen zieht jeder den Hut. Und wieso? Nicht, weil sie allen Respekt verdient haben, nein. Weil sie anderen das Leben nehmen, ohne sich die Hände dabei dreckig zu machen. Weil sie Leute dazu bringen, ihre Knochen über eine dünne Schicht Haut, wegen Unterernährung, ertasten zu können. Sie schaffen es Leute dazu zu bringen bis in den Tod nicht mehr zu Lächeln. Denn vor denen zieht jeder den Hut. Sie schaffen all das, mit Worten.

Und deswegen brauche ich Veränderung. Und deswegen bin ich mir einer Veränderung Bewusst. Deswegen fühle ich die steigende Sehnsucht nach einer Veränderung. Deshalb habe ich mein Verlangen nach Veränderung erkannt.

Ich will mein eigener, 'die Leute' sein.
Ich will selbst darüber bestimmen, wie ich mich ernähre. Ich will lachen und weinen, wenn ich es für richtig halte. Ich will kein Blut sehen, um zu wissen das ich lebe. Und ich will weinen, ohne das mir jemand einredet, ich solle nicht schwach werden.

Wie lange hat es gedauert, bis ich zu meinem eigenen Herr wurde? Es hat die Narben an meinem Handgelenk gedauert. Es hat die Tränen in meinem Kissen gedauert. Es hat Monate mit Blicken auf die Waage gedauert. Und es hat Tage mit Unmengen von Gleichgültigkeit gedauert, meine Gefühle und Gedanken auf Papier weg geschrieben.
Aber zu diesem einen Punkt kam es nicht. Es kam nicht zu einem Ende.

Denn ich brauche Veränderung. Denn ich bin mir einer Veränderung bewusst. Ich fühle die Sehnsucht nach einer Veränderung in mir, und ich erkenne mein Verlangen danach.

Amanda Todd hatte Youtube.
Laura Barns benutzte Skype.
Ich verwende Wattpad.
Aber das ist kein Abschiedsbrief.
Denn nun bin ich 'die Leute'

Shirin

Dreißig BriefeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt