Kapitel 5

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KAPITEL 5

Liz

Das Feuer kam immer näher. Liz versuchte zu laufen, aber ihre Beine fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Verzweifelt ließ sie sich auf die Knie fallen, versuchte zu krabbeln, aber sie bewegte sich nur millimeterweise vorwärts. Keuchend sah sie über ihre Schulter. Das Feuer würde sie bald einholen. Sie biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch. Während sie krampfhaft versuchte, einen Fuß vor den anderen zu setzen, schmeckte sie den salzigen Schweiß auf ihren Lippen. Eine gefühlte Ewigkeit später blickte Liz sich erneut um und erkannte zu ihrem Schreck, dass sie sich keine fünf Meter vom Fleck bewegt hatte. Völlig am Ende ließ sie sich auf den Boden fallen. Tränen der Erschöpfung liefen über ihr verrußtes Gesicht. Na gut, dann werde ich hier eben sterben. Wer wird mich schon vermissen. Der Rauch vernebelte ihre Sinne und innerlich bereitete sie sich auf bevorstehende Höllenqualen vor. Wie hatte sie nur auf ein besseres Leben hoffen können. Wie naiv von ihr, zu glauben, dass es eine Antwort auf all ihre Fragen gebe. „Liz!" Ihr Kopf dröhnte. Sie spürte die tödliche Hitze des Feuers. Wäre sie doch nur im Kinderheim geblieben. Die Hausmutter hatte schon immer prophezeit, dass ihre Sturheit und Aufsässigkeit ihr eines Tages zum Verhängnis werden würden. „Liz! Du musst hier weg!" Fing sie jetzt auch noch an zu halluzinieren? Die Realität nicht von Träumen unterscheiden zu können war etwas, vor dem sich Liz schon immer gefürchtet hatte. Wenn die Grenze verschwamm...„Egal wohin, aber hau einfach ab von hier, hast du mich verstanden? Mach dir keine Sorgen um mich, ich werde dich schon finden!" Die Realität. Joshua. Es ist Joshua. Moment...das heißt es ist nur ein... „Traum!" Liz fuhr hoch. Stöhnend fasste sie sich an die pochenden Schläfen. Es roch merkwürdig nach...Feuer. Und noch etwas anderem, das sie nicht zuordnen konnte. Deshalb der Traum. Liz brauchte nicht lange, bis sie die Situation erfasst hatte. Der Zug. Eine Explosion. Ich hätte darin gesessen. Aber ich wurde gerettet. Von Joshua. „Joshua?" Liz sprang auf und sah sich um. Ihr Rucksack lag neben ihr. Also war er bestimmt irgendwo in der Nähe. Er musste hier sein. Suchend schweifte ihr Blick über die Lichtung. Nichts. Hektisch lief sie in Richtung der Bahngleise, doch sie blieb wie vom Blitz getroffen stehen. Der Anblick ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Rauch und Feuer züngelten aus den Resten dessen hervor, was bis vor kurzem noch ein Zug gewesen war. All die Menschen. Unschuldig. Erst jetzt begriff Liz, von welchem Geruch die Luft wirklich erfüllt war. Ein kaltes Schaudern durchfuhr sie. Doch obwohl das, was sie sah, in ihr einen üblen Brechreiz hervorrief, konnte sie den Blick nicht abwenden. Es war, als hätte der Schreck sie gefangen genommen und all ihre Muskeln gelähmt. Du musst hier weg. Das hatte Joshua ihr befohlen. Und Joshua, so hatte es sich gezeigt, hatte Recht. Egal wohin, aber hau einfach ab von hier, hast du mich verstanden? „Ja", murmelte Liz, „Ja, ich verstehe vollkommen." Hastig rannte sie zurück zu ihren Habseligkeiten, während sie versuchte, sich nicht zu übergeben. Sie griff nach ihrem Rucksack und sprintete los. Vor Augen ständig dieses Bild, eingebrannt in ihr Gedächtnis. In der Nase der bleibende Gestank. Äste peitschten ihr ins Gesicht und Dornen zerkratzen ihre Beine und Arme, aber Liz interessierte das alles herzlich wenig. Sie versuchte alles auszublenden und sich nur auf das Laufen zu konzentrieren. Kein Seitenstechen kriegen. Regelmäßig atmen. Einatmen. Ausatmen. 

Der Rucksack wurde immer schwerer und schnitt ihr langsam die Luft ab. Liz verlangsamte ihr Tempo und blieb schließlich vor einem Dornengebüsch stehen. Sie brauchte ihn eigentlich gar nicht. Alles was ihr wichtig war, war in der Schachtel. Die steckte ganz unten im Rucksack. Zumindest sollte sie dort sein. Jetzt war sie es nämlich nicht. Vielleicht ist sie verrutscht, als Joshua den Rucksack aus dem Fenster geworfen hat. Liz durchsuchte sämtliche Fächer. Das kann doch nicht wahr sein. Du hast sie ganz sicher übersehen. Sie entleerte den Rucksack auf den Boden und begann hektisch alles zu durchwühlen. Immer weiter zerstreute sie die Sachen, doch die Schachtel war und blieb wie vom Erdboden verschluckt. Erschöpft ließ sich Liz zu Boden fallen und vergrub das Gesicht in ihren Händen. Super gemacht. Jetzt hast du nichts mehr. Typisch. Alles verlierst du, nicht nur deine Familie und deine Erinnerung... „Sei still!" Ein lautes, hysterisches Schluchzen entfuhr Liz. Verzweifelt versuchte sie sich zu erinnern, wo sie die Schachtel zum letzten Mal gesehen hatte. War es bei Sarah gewesen? Oder im Zug? Oder hatte sie sie doch im Kinderheim vergessen? Sie hätte besser aufpassen müssen, aber sie hatte ja nie an etwas anderes gedacht, als ans Weglaufen. Du willst immer weg. Da war sie wieder, die innere Stimme. Du willst immer nur weg, aber wohin willst du? Sie wusste es nicht. Wohin? Es schallte wie ein tausendfaches Echo in ihrem Kopf. Liz wollte sich gegen die Müdigkeit wehren, die sie plötzlich von irgendwoher befiel, doch sie konnte nicht verhindern, dass ein grauer Schleier ihre Sinne benebelte und sie mit sich in ein endloses Nichts zog.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Aug 27, 2015 ⏰

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