Kapitel 3

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KAPITEL 3

Es war ein neuer Tag. Einer, an dem man wieder einen vollen Tank hat, eine neue Chance, neue Kraft, neuen Mut, einen neuen Traum. Neue Hoffnung auf das, was vor einem liegt. Jeder hat diese Tage, 365 in einem einzigen Jahr, alle vier Jahre ist es so gar ein Tag mehr. Meistens dauert es allerdings nicht all zu lange, bis nichts von all dem Neuen mehr da ist. Vielleicht dauert es fünf Minuten, vielleicht sogar eine Stunde. Wenn es ein guter Tag ist, schafft man es möglicherweise bis zum frühen Nachmittag. Ganz glückliche Menschen halten sogar bis zum Zubettgehen durch. Liz neuer Tag hatte bis jetzt meist nach dem Aufwachen geendet, denn danach war ihr wieder all das bewusst geworden, was auf sie zukam. Liz hatte es verlernt zu hoffen. Zumindest glaubte sie das. Doch an diesem Morgen war etwas anders. Sie spürte etwas in sich aufkeimen- Hoffnung. Zum ersten Mal glaubte sie daran, dass etwas aus ihrem Leben werden könnte. Wenn sie doch nur mehr wüsste. Wenn sie nur wüsste, wo sie mit ihrer Suche beginnen könnte. Es gab Momente in Liz‘ Leben, in denen sie meinte, sich erinnern zu können. An ein Leben vor diesem, an einem anderen Ort, an dem Geborgenheit herrschte und Liebe. Aber diese Momente waren mit dem zweiten Gedanken daran dann auch schon vorbei. Das erste, woran Liz sich genau erinnern konnte, war Sarah. Sarah war irgendwie schon immer da gewesen. Als Liz in einem weißen Raum in einem weißen Bett aufgewacht war und sich fragte, ob sie tot sei und das hier der Himmel war, hatte Sarah sie zurück ins Leben geholt. Als Liz nicht mehr gewusst hatte, wer sie war, woher sie kam und wie sie im Krankenhaus gelandet war, hatte Sarah ihr auf die Sprünge geholfen. Strenggenommen hatte sie eigentlich nur gesagt, dass sie Liz vor drei Jahren bewusstlos im Wald neben der Tankstelle gefunden hatte und dass Liz ein Namensbändchen um das Handgelenk getragen hatte. Dieses war allerdings leider beim Transport ins Krankenhaus abhanden gekommen. Sarah hatte der Polizei Liz‘ Namen genannt und anhand dessen konnte ihre Geburtsurkunde ausfindig gemacht werden. Der zufolge war sie irgendwo in Deutschland geboren worden. Die Namen ihrer Eltern waren auch verzeichnet. Das einzige was  bei Liz gefunden wurde, war der zerfledderte Rucksack und darin die Schachtel. Sarah war die einzige, die von dieser wusste. Sie hatte Liz immer eingetrichtert, nichts darüber zu erzählen. Liz hatte das anfangs merkwürdig gefunden, dann jedoch einfach beschlossen ihr zu vertrauen. Mehr wusste sie nicht. Mehr wusste Sarah  auch nicht. Mehr wusste niemand. Aber Sarah hatte sie hin und wieder im Kinderheim besucht. Sarah war ihre Freundin. Genau genommen ruhte Liz‘ gesamte Identität in Sarah. Liz trat an das Waggonfenster und betrachtete in die Natur, die an ihr vorbeiflog. Es war grau und neblig und sie konnte die Kälte draußen förmlich spüren. Doch plötzlich durchbrach ein Sonnenstrahl die Wolken und fiel auf Liz‘ erstauntes Gesicht. Eine ganze Weile verharrte Liz in ihrer Position ohne sich zu rühren. Sie schloss die Augen und genoss die wohlige Wärme, die die Sonne mit sich brachte. Das muss Leben sein.

Joshua

Er riss die Tür auf und stolperte atemlos herein. Das Mädchen stand am Fenster. So nichtsahnend. „Komm mit! Sofort! Du musst raus aus dem Zug!“ Er packte sie fest am Arm und wollte sie mit sich ziehen, aber sie befreite sich wütend aus seinem Griff. Joshua war sich sicher, wenn Blicke töten könnten, wäre er jetzt tot. Aber wenn er sie nicht hier rausholte… Sie blitzte ihn an.  „Sachte sachte man! Bist du bescheuert? Ich soll aus dem Zug springen? Welcher Draht ist denn jetzt in deinem Hirn durchge…“ Ihm wurde bewusst wie unglaublich sich das für sie anhören musste. Sie hat keine Ahnung. Dann erst recht. Er holte tief Luft.„Ich weiß, das klingt verrückt, aber hey, ich mach keine Witze! Ich erklär es dir sobald wir hier raus sind, versprochen!“ „Aber…“ „Kein aber! Vertrau mir bitte einfach, okay?“ Er atmete tief aus und sah sich suchend um. Neben dem Fenster erblickte er einen Notfallhammer. Perfekt. Er sah zu ihr hinüber. Glaub mir einfach, bitte.

 

Liz

Tausend Gedanken schossen Liz durch den Kopf.

Vertrauen? Dem? Du kennst ihn nicht mal.

Hör auf ihn, er wird wissen was er tut. Er will es dir später erklären, schon vergessen?

Und wenn er es nicht ernst meint? Aus dem Zug springen? Ernsthaft?! Das ist doch Schwachsinn!

Er ist nett, er würde nicht lügen. Was kannst du denn verlieren?

Joshua starrte sie an. Liz blinzelte. „Okay.“ Joshua schien erleichtert zu sein. Entgeistert sah sie zu, wie er das Fenster mit dem Notfallhammer durchbrach. Splitter fielen auf den Boden. Es klirrte so laut, dass Liz sich wunderte, warum der Schaffner nicht angerannt kam. „Gleich wird der Zug langsamer.“ Woher weiß er das? „Ich werf deine Sachen zuerst raus. Dann zähl ich bis drei und dann springen wir, okay? Hast du mich verstanden? Hörst du mir überhaupt zu? LIZ!“ 

Codewort Cruel [ON HOLD]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt