Kapitel 2

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KAPITEL 2

Liz war halb erfroren und ihre Klamotten durchnässt, als sie erwachte. Es war kalt und die Luft war feucht. Liz tastete nach ihrer Daunendecke, aber da war keine. Sie fühlte sich wie neunzig, obwohl sie erst fünfzehn Jahre alt war. Bei jeder geringsten Bewegung schmerzten alle ihre Glieder. Schließlich richtete sie sich auf. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, warum sie nicht in ihrem Bett im Kinderheim lag. Und warum sie keinen Alptraum gehabt hatte. Warum es hier so kalt und nass war. Dann fiel ihr alles wieder ein. Sie befand sich auf der Flucht. Sie befand sich auf einer Reise in ihre Vergangenheit. Gestern war bis zum Rand der nahegelegenen Stadt gekommen. Sie hatte sich nur noch mühsam auf den Beinen halten können und musste dann wohl zusammengeklappt sein. Liz streckte sich einmal und sah dann auf die Uhr ihres Handys. Sechs Uhr. Noch eine Stunde bis auch die letzten Langschläfer im Kinderheim aufstehen würden. Alle würden in den Speisesaal gehen und gerade stehend darauf warten, dass der Hausvater das übliche Tischgebet sprach. Danach würde wie immer die Anwesenheit kontrolliert. Wer zu spät kam, wurde bestraft. Alles im Kinderheim folgte einer Routine. Liz hasste Routine, sie war ein sehr impulsiver Mensch, was ihr oft zum Verhängnis wurde. Naja, auf jeden Fall würde sie bei der Anwesenheitskontrolle wie üblich fehlen. Die Hausmutter würde zornig ins Zimmer stürmen und laut zetern, Liz Brown sei eine unverbesserliche, ungehorsame Göre, die es nicht verdiene so gut behandelt zu werden, geschweige denn zu leben. Lange genug habe sie, die Hausmutter mit Geduld wie ein Ozean, sich mit ihr abgeplagt, doch Liz mache ihr das Leben zur Hölle. So würde das Gezeter zu einem Jaulen anschwellen und in einem wütenden Schrei enden, den man, so wurde sich erzählt, bis in den letzten Winkel der Stadt hören konnte. Irgendwann, rund fünf Minuten später würde die Hausmutter endlich bemerken, dass Liz ja gar nicht da war. Sie würde den Hausvater alarmieren. Das Gelände würde abgesucht werden. Wenn man sie dort nicht fand, würde höchstwahrscheinlich die Polizei informiert werden. Bis dahin gab es noch viel zu tun. Liz stolperte bis zu der Tankstelle am Waldrand und hoffte, dass sie schon geöffnet war. Und dass ihre einzige Freundin auf der Welt, Sarah, den Posten gerade besetzte. Die Sterne mussten wohl günstig stehen, denn Liz Hoffnungen wurden ausnahmslos erfüllt. Sarah war zwar sehr überrascht sie zu sehen, aber nach Liz' Berichtserstattung fackelte sie nicht lange. „Komm, wir gehen. Ich habe jetzt eh Dienstschluss." Sie packte Liz am Arm und zog sie mit sich.

Als die Hausmutter mehr als eine Stunde später endlich Liz Browns Verschwinden bemerkte, befand sich diese mit braunen, schulterlangen statt der ursprünglichen blonden taillenlangen Haaren, in Markenklamotten, die sie doch nie tragen würde, geschminkt, was Liz normalerweise verabscheute, mit einem Pass, der sie als Brenda Wayne auszeichnete, in einem Schnellzug, der sie zum Bahnhof in X. bringen würde. Von dort aus würde Brenda Wayne durch einen unterseeischen Tunnel geradewegs nach Frankreich befördert werden. Dort würde eine gewisse Samantha sie bereits erwarten. Doch das alles konnte die erboste Hausmutter in der Nähe von London gar nicht wissen. Sarah Sott hatte eben ihre Connections.

* * *

„Verdaaaaaaaaaaaaaaaaammt!", schrie Brenda Wayne alias Liz Brown, als ihr der Rucksack krachend auf den rechten Fuß fiel, und hüpfte, sich eben diesen festhaltend, im Kreis herum. „Alles in Ordnung bei dir?", fragte eine Stimme belustigt. Liz wirbelte herum, eine spitze Antwort auf der Zunge. Aber dann sagte sie doch nichts, denn sie blickte in die schönsten braunen Jungenaugen, die sie je gesehen hatte. Allerdings machte sich Liz nicht viel aus Jungs. Und hielt auch nicht viel von ihnen. Es ist viel zu klischeehaft, sich jetzt zu verlieben. Das wäre zu typisch. Was hast du eigentlich für kranke Gedanken? Reiß dich zusammen! Sag was, Liz, los! „Sehe ich so aus als bräuchte ich Gesellschaft?", zischte sie ärgerlich. Der Junge schien sich nichts daraus zu machen, sondern streckte ihr die Hand entgegen. „Joshua. Nett, dich kennenzulernen." Was will der von mir? „Schön, dann freut es wenigstens einen. Mich jedenfalls nicht. Wenn Sie mich jetzt bitte vorbeilassen würden!" Liz versuchte sich verzweifelt, sich an dem Jungen vorbeizuquetschen. „Ich geh schon, Eisprinzessin!", sagte er grinsend und verschwand, unmittelbar nachdem er ihr noch einen schönen Tag gewünscht hatte. Liz war froh, endlich allein im Abteil zu sein. Erleichtert ließ sie sich auf den Sitz fallen. Teil eins der Flucht lief bisher fast wie geschmiert. „Fast" nur wegen diesem blöden Typen von vorhin. Naja, der konnte ihr egal sein. Sie hatte wichtigeres zu tun, als sich mit ihm zu beschäftigen.

Liz fuhr aus dem Schlaf, weil jemand sie rüttelte. „Alles klar bei dir? Du hast geschrien." Sie seufzte innerlich. Der Junge mit den braunen Augen. Wie hieß er noch gleich? Joshua. „Es ist alles okay, Joshua, danke", sagte Liz so abweisend, wie sie konnte und drehte sich von ihm weg. Doch er machte keine Anstalten zu gehen, sondern setzte sich neben sie. Irritiert stellte Liz fest, dass er wieder grinste. Obwohl sie ihn mit ihrem Geschreie bestimmt... „Du hast dir meinen Namen gemerkt", meinte er plötzlich. Bevor Liz irgendetwas höchstwahrscheinlich nicht so Nettes erwidern konnte, fragte er sie, ob sie öfter Alpträume hätte. Liz überlegte, ob sie lügen sollte, entschied sich jedoch zu ihrem eigenen Erstaunen für die Wahrheit und sprach sie aus, bevor sie es sich anders überlegen konnte. „Seit ich denken kann." „Hatte ich bis vor Kurzem auch." Überrascht sah Liz ihn an. „Was hast du gemacht, damit sie aufhörten?" Sei nicht so neugierig. Was gehen dich seine Probleme an? „Ich war in Therapie bei 'ner Psychologin. Solltest du auch mal machen, dauert zwar ein bisschen, aber es bringt echt was." Joshua lächelte. „Ich muss gehen. Er stand auf und ging zur Abteiltür. Dann drehte er sich um und sagte etwas für Liz vollkommen Unbegreifliches: „Ich bin da, wenn du mich brauchst. Schlaf gut!" Schon eine ganze Weile, nachdem er gegangen war, krächzte sie: „Du auch."

Codewort Cruel [ON HOLD]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt