4. Kapitel

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Ich kam beim Frühstück an und stellte mich in die Reihe vor der Essensausgabe. Heute gab es ein Stück Brot, wie jeden Tag, und einen halben Liter Kaffee, dieser wechselte von Tag zu Tag mal mit einem halben Liter dünne Suppe.

Aber der Kaffee war natürlich ohne Milch und ungesüßt. Was denn auch sonst? Sollten die Soldaten etwa ihre Milch und ihren Zucker an uns dreckige Juden verteilen?

Jetzt sei nicht so sarkastisch, das steht dir nicht.

Schade. Ich dachte ich hätte sie endlich los geworden. Was für ein riesen Irrtum meinerseits. Mal wieder. Naja, ich seufzte. Sie würde wahrscheinlich nie abhauen...

Nun war ich an der Reihe und bekam mein Brot und den halben Liter Kaffee. Als ob man davon satt werden würde. So extrem spindeldürr wie hier manche waren, hätten sie das Essen auch einfach das Klo runterspülen können, anstatt es den Häftlingen zu geben.

Wie ich früher extrem dünne Leute gehasst habe, ich habe sie verabscheut. Genau genommen habe ich sie gar nicht gehasst, ich habe sie beneidet. Sie waren all das, was ich nicht war. Sie waren sehr dünn, sportlich, talentiert und hübsch. Ich war zwar erst neun, aber auch ich habe verstanden, was das Schönheitsideal der deutschen Frau war: Groß, dünn, blond, blauäugig, dem Mann und dem Deutschen Reich treu ergeben und vaterlandliebend und möglichst "gebärfreudig"... dieser Begriff...

Kotz würg...

Ausnahmsweise stimme ich dir mal zu, auch wenn mir das nicht wirklich gefällt!

Ach, das weiß ich doch, ich habe dich doch auch sooo doll lieb! Achte bitte auf den Sarkasmus.

Denkst du etwa, ich wäre so blöd, dass ich selbst Sarkasmus nicht raushören würde?!?

Genau das. Ansonsten hätte ich das doch nicht extra gesagt?!

Nett und liebreizend wie immer.

Ach, weiß ich doch. Das kann ich aber nur zurückgeben, meine Teuerste.

*Schnaub* Na egal, den Begriff habe ich auf jeden Fall schon früher gehasst, und jetzt verabscheue ich ihn regelrecht... es heißt, dass die Frauen möglichst positiv darüber denken sollen, möglichst viele Kinder zu bekommen...

Auf jeden Fall war, und bin ich immer noch nicht, das Ideal der typischen deutschen Frau, die jeder haben will. Und dünn war immer, was alle total schön fanden... Mir haben sie weil ich halt nicht das Ideal war, und außerdem Jüdin, immer abfällige Blicke zugeworfen, und so etwas getuschelt wie: "Die Juden sind an allem Schuld! Sperrt sie weg! " und "Weg mit den Juden, die sind doch auch an die Wirtschaftskriese 1873 schuld gewesen!", immer wieder solche unwahren Anschuldigungen... aber was soll man machen? Man kann ja schlecht zu ihnen hingehen und sagen, dass das nicht stimmt, das würde nur in einen Streit ausarten...

Du schweifst vom Thema ab.

Ja, Entschuldigung!

Auf jeden Fall, heutzutage habe ich nur noch mit dünnen Leuten zu tun, von den Aufsehern mal abgesehen, weil dieses "Essen" einfach nicht schmeckt und es viel zu wenig ist. Selbst die Leute, die früher mal eher dick waren, sind hier entweder gar nicht zu recht gekommen, oder sind jetzt spindeldürr, wenn sie schon ein paar Jahre hier sind. Wenn ich immer noch dünne Leute extrem verabscheuen würde, müsste ich alle hier hassen. Na gut, die Aufseher hasse ich auch alle, aber die anderen "normalen" Menschen nicht. Einige von ihnen sind zwar scheiße, aber viele sind auch sehr nett.

Ich bekam also meine Stück Brot und den Kaffee und setzte mich auf eine der Bänke. Vor und neben mir saßen überall Frauen und aßen genau wie ich ihr Essen. Es war nicht übermäßig laut, ab und zu gab es kurzes Geflüster, aber mehr auch nicht, denn das mochten die Aufseher nicht. Insgesamt war es also eine ziemlich bedrückende Stimmung.

Wenn man hier einmal die Flut an Gesichtern betrachtete, hatten alle den gleichen, eher ausdruckslosen Gesichtsausdruck. Ihre Gesichter waren eigentlich sehr unterschiedlich, sie hatten braune, blaue, grüne oder mischfarbene und eng oder zusammenstehende Augen, eher kleine und zierliche Nasen oder große, eher füllige Nasen, hohe und ausgeprägte oder so gut wie gar keine Wangenknochen, hohe oder tiefe Stirnen und Haaransätze und große, füllige oder kleine Lippen, aber eines hatten sie alles gleich, diesen emotionslosen oder traurigen Gesichtsausdruck, der einen auf Dauer auch deprimiert machte. Auch, wenn sie immer mal wieder lächelten, lag die gedrückte Stimmung und diese Traurigkeit auf ihnen wie ein Schleier.

Man konnte es einfach an ihren Körperhaltungen erkennen, wie sie standen, sprachen und aßen, allein, wie sie das Essen zum Mund führten, machte es deutlich.

Ich aß mein Essen erstaunlich schnell auf und wartete. Eigentlich aß ich immer sehr langsam, weil man dadurch besser von wenigem Essen satt wurde, aber heute hatte ich das anscheinend vergessen, weil ich so viel nachgedacht hatte.

Ich sag ja immer du sollst nicht so viel nachdenken, das schadet dir nur.

Ignorieren, ignorieren, nicht ausrasten... wir hatten einen strengen Zeitplan, und nur eine halbe Stunde um aufzustehen, uns zu waschen, die Betten zu machen, unsere Spinde zu ordnen und zu frühstücken. Jaja, sehr bescheuert, aber man gewöhnt sich nach einer Zeit daran. Nach einer sehr langen Zeit. Sehr sehr langen Zeit. Egal.

Die Zeit war um. Wir standen auf und gingen geordnet hinaus. Ein paar Frauen blieben noch kurz und räumten den Essensraum auf. Im Gleichschritt marschierten wir erst auf die Lagerstraße hinaus, und dann weiter zum Appellplatz. Hier waren schon viele andere Gruppen, und ich hielt unbemerkt Ausschau nach David.

David. Meine Stützte in all den Jahren, in denen ich schon hier war, und das waren einige. Sein Lächeln und seine Aufmunterungen machten alles Vergessen, wo wir waren, was wir waren, und wieso wir hier waren. Meine gute Seele. Er hatte mich gelehrt, stark zu sein, und durchzuhalten, nicht aufzugeben. Und das würde ich nie, aber mein Körper wahrscheinlich. Mein Wille wird leider nie groß genug sein, um körperlichen Schaden wieder zu heilen, und mittlerweile habe ich davon doch einiges.

Langsam müsste ich mal überlegen, was ich mache, denn lange habe ich nicht mehr.

Plötzlich sah ich ihn, ungefähr 50 Meter von mir entfernt, in einer anderen, schon stehenden Gruppe. Noch sah ich nur seine halbe Gesichtshälfte, er konnte mich noch nicht sehen. Wir marschierten weiter.

Als ich ihm dann ins Gesicht sehen konnte, keuchte ich laut auf. David hatte ein blaues Auge auf der rechten Seite, und darunter war ein langer Schnitt, wie von einem Dolch, der bei seiner Schläfe begann, sich über seine Wange zog und kurz vor seinem Nasenflügel endete.

"Leise, keinen Muchs!" schrie der Aufseher, der unsere Gruppe zu unserem Platz auf dem Appellplatz führte.

Ich setzte einen emotionslosen Gesichtsausdruck auf und lief weiter. Ich würde mich nach der Arbeit, oder am besten noch davor, mal mit ihm unterhalten müssen. So schnell wie möglich.

Aber jetzt stand erstmal der übliche Morgenappell an. Bringen wir ihn hinter uns.

Auf in den täglichen Kampf ums Überleben, Tag... ich habe aufgehört zu zählen, weil es zu viele waren.

Ich weiß, überleben wir einfachen einen weiteren Tag. Wird schon schiefgehen.

Und das wird er auch, im wahrsten Sinne des Wortes.


Die Tribute von Panem - Hitlers HungerspieleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt