Kapitel 6

381 8 1
                                    

Beim Abendessen diente ich wieder. Als ich jedoch mit der Köchin gehen wollte, hielt mich mein Herr zurück: „Mila, du bleibst hier. Du kommst wieder mit ins Wohnzimmer." Mich schauderte bei der Vorstellung, dass sich der gestrige Abend wiederholen sollte. Ich blieb am Rand stehen und wartete mit dem Blick auf dem Boden. Mittlerweile kannte ich den Boden auswendig. Ich wusste wann diese Maserung und wann jene kam. Der Herr stand auf und ging. Ich folgte ihm mit etwas Abstand und ging also ins Wohnzimmer. Ich blieb dort an der Tür stehen und wartete auf eine Anweisung vom Herrn. „Tanze. Ich lege Musik auf.", forderte er. Ich atmete tief ein. Tanzen. Nein. Was denkst du denn da? Natürlich tanzt du. Das war ein Befehl. Also was ist? Mit so viel Hingabe wie sonst auch. Vergiss den Herrn. Ich seufzte leise und wartete auf Musik. Es kam klassische Musik und ich fing an mich im Takt zu wiegen. Ich konnte ihn nicht vergessen. Irgendwann schaltete er die Musik ab: „Das reicht. Spiel lieber ein Klavierstück." Puh, ich hatte mich so schlecht bewegt, dass ich es nicht mehr tun musste. Ich setzte mich an den Flügel und spielte einfach drauf los. Doch tat ich das ohne meine Gefühle darin zu verwirklichen. Ich verschloss sie hinter einer dicken Mauer. Plötzlich trat noch jemand ein. Die Tür fiel nicht mehr zu. Der Unbekannte musste in ihr stehen geblieben sein. „Warum spielst du nicht wie gestern?", unterbrach mich mein Herr. „Es tut mir Leid, Herr. Ich werde so spielen wie gestern. Was wollen Sie hören?", fragte ich. „Ich will, dass du improvisierst.", forderte er grimmig. Ich nickte und fing an. Ich wollte mich nicht in der Musik wieder versenken, aber mir blieb nichts anderes übrig. Ich spielte so lange, bis ich alles in mir nicht mehr zurück halten konnte. Und dann ließ ich alles raus. Heute war die Melodie heller und lichter. Jedoch ließ ich sie dunkel ausklingen. Ich hörte anerkennendes Gemurmel und erschrak. Wie viele Menschen in diesem Raum hatte ich übersehen? „Könntest du dieses Stück spielen?", fragte mein Herr und legte mir Noten hin. „Ich versuche es, Herr.", nickte ich. Ich schaute mir die Noten an und überlegte kurz. Das müsste gehen. Ich fing an zu spielen. Ein paar mal verspielte ich mich. Am Ende entschuldigte ich mich sofort: „Entschuldigt, Herr, es ist das erste mal, dass ich diese Noten sehe." „Ich gebe dir noch ein Notenblatt. Ich fände es gut, wenn du diese bis Freitag lernen könntest.", sagte er und schien mich damit zu entlassen. Erleichtert gehen zu dürfen, verbeugte ich mich und ging dann zu der Tür. Ich schaute auf und sah plötzlich in viele Gesichter. Das gesamte Haus schien hier versammelt zu sein. Tom machte mir Platz und Julia begleitete mich in meine Kammer. Sie setzte sich auf mein Bett und ich setzte mich neben sie. „Du spielst wirklich gut.", lobte sie mich. „Danke.", ich wurde rot. „Ich kenne den Herrn schon lange. Da war er gerade zehn Jahre alt. Er hat noch nie ein Mädchen und erst recht keine Dienerin so angesehen. Du faszinierst ihn. Hab keine Angst. Er ist ein guter Herr und er ist auch als Mensch sehr nett und lieb. Er hat auch seine schlechten Tage, ja, aber die sind nicht so häufig. Trau dich ihm zu zeigen, was du kannst. Das hast du nämlich heute nicht, richtig? Er wird dir deswegen nichts antun. Ich weiß nicht was du erlebt hast. Es war nicht gutes, das sehe ich. Aber der Herr ist gut und wird es nicht wiederholen. Ich glaube er mag dich. Und vielleicht schickt er dich auf eine Musikschule oder so. Oder hilft dir zumindest aus der Dienerschaft raus zu kommen. Dafür musst du ihm zeigen, was du kannst. Ich möchte dir nicht deine Entscheidung abnehmen. Ich möchte dir aber deutlich machen, dass du keine Angst zu haben brauchst. Das wollte ich dir sagen." Sie lächelte mir zu und nahm mich in den Arm: „Vielleicht erzählst du mir irgendwann, was geschehen ist. Ich möchte dir gerne helfen." Ich nickte in ihren Arm und sog tief ihren Geruch ein. Er gab mir das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit. Und er erinnerte mich an meine Mutter. Obwohl ich keine konkrete Erinnerung an meine Mutter hatte. „Danke.", flüsterte ich nochmal, als Julia aufstand und ging.


DienerinWo Geschichten leben. Entdecke jetzt