Raphael ist sauer, weil ich einfach gegangen bin. Da sieht er mal, wie das ist, wenn man einfach abhaut. Außerdem ist er selbst schuld. Er musste ja nochmal damit anfangen. Es ist ja lächerlich, was er da sagt. Zu dünn. Als könnte ich jemals zu dünn sein. Ich esse einfach zu viel um dünn zu sein.
„Du bist dran!", der kleine Leo tippt mich an.
„Aaaahhh na warte!", rufe ich und renne ihm hinterher. Ein paar Kinder kreischen und verschwinden in alle Richtungen. Sie sind flink wie Wiesel. Ich renne hinter der kleinen Melanie her. Doch sie schlägt einen Haken und ich renne vorbei. Ich bekomme Seitenstechen. Der stechende Schmerz pulsiert unter meinen Rippen. Ein paar Meter neben mir sehe ich die kleine Anna stehen. Sie träumt mal wieder vor sich hin. Ich renne zu ihr und kitzele sie.
„Du bist dran", rufe ich.
„Jaaaa!", schreit sie und rennt los. Ich bin ganz schön aus der Puste. So eine schlechte Kondition, wie ich habe, sollte ich mehr Sport machen. Ich keuche ja wie eine alte Frau.
Hinter mir höre ich das Knirschen von Autoreifen. Ein weißer Lieferwagen rollt auf die Wiese und bleibt neben dem Speisezelt stehen. Dennis und Raphael kommen aus dem Zelt. Wir haben Getränke und Grillsachen bestellt, da heute Abend das andere Camp zu Besuch kommt. Die beiden schleppen die Getränke. Die Flaschen klappern in den Plastikkisten.
Dennis ruft Raphael etwas zu, doch ich verstehe es nicht. Raphaels dunkles Lachen hallt über die Wiese. Eine leichte Gänsehaut legt sich über mein Herz. Ich wünsche mir die Blase um uns herum zurück. Ich wünsche mir, dass er mich ansieht, so wie vor ein paar Tagen noch. Als es nur noch uns gab, in unserer Blase. Ohne Streit und ohne Vorwürfe. Ich vermisse den Zitronenduft. Ich vermisse die Geborgenheit.
Es fühlt sich an, als wäre er viel weiter weg als nur diese paar Meter. Er verschwindet im Zelt. Ich muss unbedingt mit ihm reden. Mein Seitenstechen ist verschwunden. „Alle Mädchen kommen mit uns!", ruft Valerie. Es gibt noch viel zu tun. Die Mädchen duschen und kommen anschließend zu Valerie und mir in unser imaginäres Haarstudio. Wir flechten Zöpfe, binden Schleifchen und klipsen Haarklammern in die Haare. Die Mädchen sind glücklich und ich bin etwas abgelenkt. Raphael hat immer noch nicht mit mir gesprochen. Doch langsam wird die Zeit knapp. Ich muss mich auch noch duschen und umziehen, denn die anderen werden bald hier sein.
Ich schlüpfe in eine Jeans. Sie sitzt locker. Ich suche mein weißes Tanktop aus der Tasche und ziehe einen dünnen Pullover darüber. Habe ich denn keinen Gürtel mitgebracht? Ich wühle in meiner Reisetasche. Ganz unten finde ich ihn. Ich stecke ihn durch die Schlaufen und schließe die Schnalle. Schon besser.
Ich klettere aus meinem Zelt. Die Kinder des anderen Camps rennen bereits über die Wiese. Ich sehe Chris und Daniel bei Dennis stehen.
„Hey!", rufe ich, als ich auf sie zugehe. Daniel streckt mir seine Hand entgegen.
„Seid ihr noch gut nach Hause gekommen?", fragt er.
„Ja", sage ich und schüttle seine Hand. Ich strecke Chris meine Hand entgegen, doch er zieht mich an sich und umarmt mich. Na sowas. Ich pralle gegen seinen Oberkörper.
„Hallo", murmle ich. Ich gehe einen Schritt zurück.
„Lange nicht gesehen, was?", knurrt Raphael hinter mir. Das hat mir gerade noch gefehlt. Er ist sowieso schon sauer auf mich.
„Hey, Mann. Alles klar?", fragt Chris und streckt ihm die Hand entgegen.
„Bei mir, ja.", sagt Raphael und schlägt ein. Er stellt sich neben mich und legt mir den Arm um die Schulter. Das gewohnte Kribbeln seiner Berührung bleibt aus. Sein Arm ist schwer, ich fühle mich eingeengt. Wieso sagt keiner was? Ich winde mich unter seinem Gewicht.
„Raphael?", frage ich.
„Ja?", fragt er und sieht Chris dabei an. Dieses blöde Reviergehabe geht mir auf die Nerven.
„Ich brauche dein Feuerzeug", sage ich. Jetzt habe ich seine volle Aufmerksamkeit. Er runzelt die Stirn.
„Für was?", fragt er.
„Für die Fackeln?", frage ich zurück. Er nickt und fischt sein Feuerzeug aus der Hosentasche. Er legt es in meine Hand. Es ist keines dieser durchsichtigen Feuerzeuge. Es ist abgegriffen und es ist...rosa. Rosa? Ich sehe ihn an, doch er zuckt nur mit den Schultern. Das hat er sicher irgendwo geklaut. Ich tauche unter seinem Arm weg und mache mich an die Arbeit.
Ein paar Fackeln stelle ich neben das Speisezelt, ein paar zu den Bauwägen und eine stelle ich neben unsere Bank. Auch wenn ich mich jedes Mal schlecht fühle, wenn wir hier stehen und er sagt: „Setz dich". Doch irgendwie ist es unsere Bank. Ich wünsche mir den Moment zurück, als er mir von seinen Sozialstunden erzählt hat. Ich habe mich bei ihm so wohl gefühlt. Er hat mich auf seinen Schoß gezogen und seine Arme um mich geschlungen. Ich muss mit ihm reden.
Ich gehe über die Wiese und entdecke die Betreuerin des anderen Camps. Helen. Letztes Mal habe ich nicht viel mit ihr gesprochen. Ich habe sie nur kurz Kennengelernt, als ich mit Chris einen Abschiedsschnaps getrunken habe. Sie scheint nett zu sein. Ich glaube, sie ist so alt wie ich. Sie hat eine super Figur. Sie ist groß und schlank und hat pechschwarze Haare, die ihr bis zur Hüfte reichen. Sie trägt einen hellen Rock und eine Bluse. Es steht ihr unwahrscheinlich gut.
„Hallo!", rufe ich und diesmal bin ich diejenige, die sie umarmt, statt ihr die Hand zu schütteln.
„Hey, Mensch Hannah wie schön, dich wiederzusehen!", sagt sie.
„Finde ich auch!", lache ich. Sie ist nett und lacht viel. Ich freue mich, dass sie hier ist. Darauf müssen wir später noch anstoßen. Aber erst einmal muss ich das Abendessen hinter mich bringen. Dennis und Wilma holen die Würstchen, Valerie und ich verteilen das Brot. Die anderen sammeln die Kinder ein und platzieren sie um das Feuer. Wenn ich nur wüsste, wie ich mich gegenüber Raphael verhalten soll. Er ist immer noch sauer. Und sein Reviergehabe nervt mich. Ich frage mich, was ich falsch gemacht habe. Doch eins ist sicher. Ich will, dass er wieder mit mir spricht.
Ich blicke zu seiner Bank, doch da ist er nicht. Ich verstehe nicht, warum er sich immer aus dem Staub macht. Er macht mich noch wahnsinnig. Ich drehe mich um und gehe zu meiner Bank. Und da sehe ich ihn. Er sitzt auf meinem Platz. Mein Herz schlägt schneller. Ich halte die Luft an und setze mich neben ihn. Er ist mir so fremd geworden in den letzten Stunden. Er spricht kein Wort. Eine unsichtbare Mauer ist zwischen uns.
Er spießt Würstchen auf reicht mir einen Spieß. Schweigend halten wir sie ins Feuer. Ich weiß gar nicht, wie ich das essen soll. Das Fett tropft ja schon. Davon nehme ich sofort wieder zu. Dann war alles umsonst. Doch eine Wurst muss ich essen, sonst fängt Raphael die nächste Diskussion an. Und darauf habe ich keine Lust. Wir haben ja die letzte noch nicht überstanden.
Hätte ich doch nur behauptet, ich sei Vegetarier. Ich halte mir die Wurst vor die Nase. Ich habe das Gefühl, ich kann das Fett und die Kalorien riechen. Ich beiße in das Würstchen. Es schmeckt eklig. Der Geschmack von Fett und Gewürzen ist kaum auszuhalten. Ich beiße in mein Brot. Das macht es nicht besser.
„Darf ich?", frage ich Raphael und deute auf seine Bierflasche.
„Mhm", nickt er und kaut. Ich trinke einen Schluck. Es ist bitter und schmeckt widerlich, doch ohne Flüssigkeit wäre ich wahrscheinlich erstickt. Wie viele Kalorien so ein Bier hat? Oder ein Schnaps? Ich muss mich mit dem Essen zurückhalten. Ich wollte ja mit Helen noch anstoßen. Ich ziehe die Wurst von dem Spieß. Raphael scheint es nicht zu bemerken. Ich lasse meinen Arm neben mir sinken. Ich warte, bis Raphael zur Seite blickt. Alle anderen sind beschäftigt. Es würde niemand sehen. Ich müsste sie nicht essen. Ich schaue nochmal in die Runde. Keiner sieht zu mir. Mit einer leichten Bewegung schmeiße ich die Wurst hinter die Bank ins Gras. Niemand sieht zu mir. Puh. Raphael nimmt sich noch eine Wurst und sieht zu mir.
„Bist du schon fertig?", fragt er und deutet auf meinen leeren Spieß.
„Nein, noch lange nicht!", lache ich und halte noch eine Wurst ins Feuer. Seine Augen blitzen auf, er lächelt. Das war ja einfach.
DU LIEST GERADE
hold me tight.
Chick-Lit„Glaubst du, dass das Absicht ist?" frage ich Dennis. Doch eigentlich will ich die Antwort nicht hören. Ich habe diesen Gedanken nie zu Ende gedacht. Ich habe es vermutet. Befürchtet. Verdrängt. Ich wollte das nicht glauben. Das ist alles eine richt...