eins

642 56 59
                                    

Wie alles begann, Ende Oktober
Erster Termin

Während ich mich selbst ermahne in diesem Bus voller Menschen nicht durchzudrehen, beobachte ich die dicken, fetten Regentropfen, die gegen die riesige Fensterscheibe prasseln. Sie ist von außen mit dem neuesten Werbemüll beklebt - was sonst? Ich erkenne vage das Portrait einer braunhaarigen Schönheit mit Zahnpastalächeln und frage mich, wie viel bei der retuschiert wurde und wie viel wohl echt ist und wieso die so dermaßen dämlich lächelt und wieso ich mich eigentlich so total bekloppte Dinge frage, derweil alles den Bach runtergeht. Wahrscheinlich, weil es einfacher ist sich solch belangloses Zeugs zu fragen und das warum zu ignorieren. Ignorieren und so tun als ob, ist immer einfacher, als sich in den Arsch zu treten und die Dinge anzugehen. Ich bin ein echtes Paradebeispiel dafür. Deshalb sitze ich hier.

Wären ein paar Dinge anders gelaufen, säße ich jetzt vielleicht Zuhause auf der Couch neben Freunden und würde mich mit denen über die neue Staffel "Love Island" schlapp lachen oder mit meinen Eltern und Janis Pizza essen oder alleine auf dem Bett hocken und für die Englischklausur am Donnerstag lernen.

Stattdessen sitze ich in diesem Bus mit gefühlt dreißig anderen Menschen, von denen jeder Zweite hustet, niest oder alle paar Minuten seine Nase putzt. Ich hasse Busse. Und Bakterien. Die Tatsache, dass Busse ein Ort sind, wo sehr wahrscheinlich tausende Keime eine Party feiern, hebt meine Laune also eher weniger.

Die Regentropfen laufen trostlos über die weißen Zähne des Werbemodels und verschwinden so schnell wie sie gekommen sind wieder aus meinem Blickfeld. Trauriges Spiel, echt deprimierend das alles hier - nach solch einem Termin.
Ich meine, an sich ist das doch ganz klar eine verdammte Glanzleistung. Habe ich nicht den Jackpot dafür verdient, dass ich ganze fünfundvierzig Minuten still da saß und einen trockenen Butterkeks nach dem nächsten in mich reingestopft habe? Ich will gar nicht wissen, wie schnell ich diese selbstgebackenen Kalorienmonster auf meinen Hüften wiedersehe!
Missmutig betrachte ich das stürmische Oktoberwetter und kann's immer noch nicht glauben.
Das soll's gewesen sein? Dieser Schwachsinn soll eine Hilfe sein?

Ich könnte ja anfangen meine Probleme niederzuschreiben, das ich nicht lache. Mir vor Augen zu halten, wie verkorkst das alles ist, macht es doch nun wirklich auch nicht besser. 

Würde ich an Gott glauben und hätte ich ein Tagebuch, würde ich jetzt mit blauer Tinte "Lieber Gott, der Himmel weint mit mir" schreiben.
Allerdings glaube ich weder auf besondere Art und Weise an irgendwen, noch besitze ich eines dieser Kritzelbücher, wo "ich meine Seele ausschütten könnte"
Will ich auch gar nicht. Brauch' ich nicht. Das versteht nur leider kein Mensch. Alle wollen dies von mir, und das und am größten wär' wahrscheinlich noch der Wunsch nach Normalität. Warum nicht gleich ein blaues Einhorn, was pures Gold kackt? Warum so bescheiden?

Ich schalte die Musik lauter, in der Hoffnung irgendwo zwischen den Bässen und dem Gegröle könnte mein Leben verstummen. 

Wieso kann man Gedanken nicht einfach unter ebay Kleinanzeigen verhökern?
"Haben Sie Interesse an kohlrabenschwarzen Gedanken? Kostenlos und versandfrei - schlagen Sie zu! Einmaliges Angebot!"

Ich mach die Augen zu und denke an nichts. Das Problem ist, wenn ich an nichts denke, dann denke ich an das Wort nichts. An das n und i, das c und h, t und s und bin wieder bei dem Wort nichts und dann dreht sich alles und ich denke schließlich an ein drehendes nichts. Es ist hoffnungslos, ich bin hoffnungslos.

Ich mache die Augen wieder auf.
Direkt in meinem Blickfeld steht nun ein turtelndes Pärchen in meinem Alter. Hatte ich schon mal erwähnt, dass das alles hier echt deprimierend ist?
Ich wende meinen Blick von dem romantischen Rumgesabber ab und schiebe den Gedanken an diese eigentlich doch lächerlichen Luxusprobleme beiseite.

Zwei Stationen noch.
Dann muss ich wieder voll und ganz da sein, mich unter Kontrolle haben. Ein verkrampftes Lächeln aufsetzen und mir fröhlich ein Begrüßungs-hallo aus dem Ärmel schütteln. Ich werde Janis erklären, was Fotosynthese ist oder mit ihm über die Kommasetzung sprechen oder über das und dass diskutieren, wenn er mir seine fertigen Deutschhausaufgaben unter die Nase hält. Ich werde meiner Mutter unter die Arme greifen, die Wäsche aufhängen, obwohl ich Wäscheaufhängen hasse, und zum Müll gehen, obwohl es wie aus Gießkannen schüttet. Und wenn mich jemand fragt, wie es war, dann werde ich sagen, es war okay. Ich werde nicht sagen, dass mich diese Frau mal kreuzweise kann, oder dass ich keinen Bock auf so was habe. Ich werde funktionieren wie ein Roboter. Ein Zahnpastalächeln aufsetzen wie diese am Computer bearbeitete Werbetante. Ja, seht nur, es ist alles ganz prima. Mir geht's verdammt noch mal richtig hervorragend!

Nur noch eine Station.

Ich könnte ja den Busfahrer überreden, ihm sagen, dass er einfach fahren soll. Zum Bahnhof. Ich könnte abhauen, über alle Berge verschwinden und meine Sorgen vor den Zug schmeißen, bevor sich piepend die Türen schließen. Piepen Zugtüren überhaupt, wenn sie sich schließen? Egal. Auf jeden Fall fahre ich ganz weit weg. Unmittelbar in der Sekunde, als dieser Gedanke durch meinen Kopf schwirrt, taucht das Bushaltestellenschild in meinem Blickfeld auf.

Im letzten Augenblick drücke ich den Schalter, damit der Bus hält.

Ich zähle die Schritte, von meinem Sitzplatz bis zur Tür plus den einen Schritt in den verregneten Nachmittag.

Sieben Schritte.

Ab heute hasse ich nicht nur Busse und Bakterien. Ich hasse auch die Zahl Sieben.

Überarbeitet: So, 23.09.2018
                             (906 Wörter)

WUHU - das erste Kapitel!

Über ein ehrliches Feedback würde ich mich freuen, wie ein Honigkuchenpferd!

flaschenpostgrünWo Geschichten leben. Entdecke jetzt