zwei

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Wie geht's dir? Ich vermisse dich. Wann kommst du wieder Papa?
Zu meinem Geburtstag wünsche ich mir die Puppe mit den glitzernden Haaren. Ich will sie Lola nennen.
Deine Marie.

Nachmittags
Nach dem ersten Termin

Wie ein Klappmesser schrecke ich hoch und sitze innerhalb einer Sekunde kerzengerade auf der roten abgeranzten Stoffcouch, total verpennt und verpeilt. Ohne jegliche Orientierung, noch immer gedankenverloren und vom Traum vernebelt, reibe ich mir den Schlaf aus den Augen. In meinem Gehirn fängt es langsam an zu arbeiten, während ich wie hypnotisiert den Staub anstarre, der vor meiner Nase im Sonnenlicht hin und her wirbelt.

Als mein verschlafener Gehirnskasten die Umstände erfasst und analysiert hat, begreife ich es.
Es klingelt.

Während ich mühselig gegen die blau gemusterte Bettdecke ankämpfe, in die meine Beine eingewickelt sind, als wäre bereits der tiefste Winter ausgebrochen, denke ich nach.
Ich denke wieso klingelt irgendein Irrer Sturm und wieso macht denn niemand auf und dann denke ich, als sich meine Beine aus der Bettdeckenumklammerung befreit haben, scheiße, ist der Boden kalt. Wir sollten so langsam mal die Heizung anstellen. Im nächsten Moment wanke ich wie ein alkoholisierter Zombie zur Tür und reiße diese mit erstaunlicher Wucht auf.

Entgeistert und ein bisschen überrascht steht mir Frau Kubitschek aus der zweiten Etage gegenüber.

Ruckartig ziehen sich meine Mundwinkel nach oben.
Und wenn ich ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich mir wie eine grässliche Lügnerin vorkomme.
Gerade noch fertig mit der Welt, stehe ich jetzt hier - mit brummendem Kopf, nackten Füßen und einem extra breiten und extrem falschen Lächeln - im Türrahmen.

Ebenfalls perplex, fasse ich mir schnell noch ins Haar, streiche mir ein paar braune Haarsträhnen hinter's Ohr und ziehe mein graues Shirt glatt - ein verzweifelter Versuch nicht wie ein kompletter Psycho auszusehen.
Mit viel Mühe und Selbstbeherrschung kriege ich ein einigermaßen fröhlich klingendes Guten Tag, wie kann ich Ihnen helfen? heraus.

Betreten blickt mir die kleine Frau direkt in die Augen, ein merkwürdiges Zucken wandert über ihre Lippen, die in einem schrecklichen Rotton bemalt sind.
Als sie spricht, mit einem noch bekümmerterem Blick, als fünf Sekunden zuvor, trifft Berliner Akzent schonungslos auf eine Raucherlunge.
Mit kratziger Stimme erzählt sie mir von Mama, die ihr Herz bei ihr ausgeschüttet hat.
Schlimm, schlimm, ick find keene Worte dafür, sagt die kleine Dame und guckt ganz betroffen. Den betroffenen Blick hat sie wirklich gut drauf.
Und dann murmelt sie leise und höchst dramatisch seufzend meen beeleid, meene Kleene.

Da ist es. Es musste kommen. Zum Millionsten Mal!
Das schlimmste, das, was in meinen Ohren bereits klingt wie ein abgelutschtes Trauerlied, wie dieses hirnrissige und bedeutungslose "Ich liebe dich" nur in noch grässlicher.

Wie ein Baum mit achtzigtausend Wurzeln steh ich da, unfähig mich zu bewegen. Meine rechte Hand fängt an zu zucken. Ich spüre wie mir das Blut in den Adern gefriert und mein Lächeln ebenfalls in der Kühltruhe
bei minus fünfzig Grad landet.

Und das einzige, was ich tue ist zu denken. Wiedermal in unsinnigen Gedanken zu versinken. wow, wie viele e's sind in einem Satz wohl möglich? höre ich die Stimme in meinem Kopf. Und dann noch eine, die mich zischend darauf hinweist, wie bescheuert es ist in dieser Situation das zu denken.

Ich starre sie an. Was soll ich jetzt tun? Soll ich danke sagen? Oder erst wie Mama ihren Arm tätscheln und mich dann tapfer lächelnd für die Anteilnahme bedanken?

Sekunden vergehen. Eine stumme Ewigkeit.

Frau Kubitschek versucht sich mittlerweile an einem zaghaften aufmunternden Lächeln. Ihre Augen sind von Fältchen umringt, ihre Wangen rosarot.
Lieb sieht sie aus. Wie eine typische Oma, die dich mit Essen vollstopft und dir Tee kocht, wenn du krank bist.

Kann man auch einfach die Tür zu machen? Darf ich die Tür genauso schwungvoll und plötzlich schließen, wie ich sie vorhin aufgerissen habe?
Nein, oder? Dann würde ich am Ende wirklich wie eine Gestörte wirken, die aus der Klapse verschwunden ist.

Also stehe ich einfach da und Frau Kubitschek steht ebenfalls unschlüssig da und zwischen uns, zwischen zwei verdatterten Menschen, steht eine wahnsinnig große Mauer aus Möglichkeiten, die wir durchbrechen könnten, wenn wir wollten.

Und siehe da - plötzlich wagt die ältere Dame einen Schritt in meine Richtung. Mit den einfachen Worten kommense ma her lässt sie die Mauer in sich zerfallen.

Keine Milisekunde später umschlingen mich ihre dünnen Ärmchen.

Meine nackten Füße sind bereits erfroren, mein Herz schlägt wie verrückt, aber mein Kopf - der hat ausnahmsweise mal Sendepause.

Und es fühlt sich gut an, wie wir da stehen.

Irgendwie fast so,

als wollte sie

meine zerbrochenen Teile

zusammenhalten.

Ich, ein verwirrtes Häufchen Elend und Frau Kubitschek, die Seelsorge aus Etage zwei.

Überarbeitet: Mo, 3. Oktober 2016

Was haltet ihr nach dem zweiten Kapitel von Marie und wie findet ihr Frau Kubitschek?
Habt ihr eine Idee, was vielleicht passiert sein könnte?
Ich würde mich über einen Kommentar von dir sehr freuen!

(Ich freue ich mich riesig über die 100 reads und eure Kommentare, die mich zum Lächeln gebracht haben)
Halleluja, das dort oben habe ich ganz am Anfang dieser Geschichte geschrieben. Jetzt sind es schon 1,5k reads!! Ein ganz großes Dankeschön!

flaschenpostgrünWo Geschichten leben. Entdecke jetzt