Kapitel 1

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Crotch Lake, Ontario, Kanada

22. April 16:42 Uhr

'Nächster Halt - Villa Lave' sprach der Fahrer von einem Bus, in dem nur noch eine weitere Person saß, mit leicht genervter Stimme in das Mikrofon. Ich saß ganz hinten alleine mit einem grau-schwarzen Rucksack auf dem Schoß, die Kopfhörer, welche mit meinem Smartphone verbunden waren, mit denen ich das Lied Enjoy the Silence hörte, steckten in meinen Ohren. Ich scrollte durch einen Gruppenchat, der sich „Crotch Lake" nannte. Diese Unterhaltung handelte von dem Wochenende, welches bevorstand und was der Grund war, warum der Busfahrer an der nächsten Haltestelle stoppen würde. Meine Freundesgruppe, die sich seit dem Beginn des Studiums vor knapp 3 Jahren entwickelt hat, vereinbarte für das erste Wochenende nach Beendigung des sechsten Semesters ein Party-Wochenende. Der genaue Aufenthaltsort für die nächsten Tage war schnell gefunden. Mein Freund und Studiumskollege Ian Lave erbte vor einiger Zeit eine Villa von seinem Onkel, der aus unbekannten Gründen verstorben sein soll. Diese Villa liegt in dem kanadischen Ort Crotch Lake, von dem ich vorher noch nie gehört habe. Als Ian die Idee einbrachte, die Semesterferien in seiner nun rechtmäßigen, eigenen Villa zu feiern, gab es keine Gegenargumente und so war es in Stein gemeißelt. Ich muss jedoch zugeben, dass ich nicht der größte Partylöwe bin. Als eher introvertierter Mensch kam mir immer wieder ein mulmiges, unsicheres Gefühl auf, wenn sich viele, vor allem junge Leute trafen, um zu feiern. Absagen, war aber für mich trotz der schlechten Erfahrungen keine Option. Meine besten Freunde waren alle eingeladen und ich freue mich mit jedem Meter, dem ich der Villa Lave näher komme, immer mehr auf die Zeit mit ihnen. Die Gruppe ist wirklich toll und jeder Einzelne ist mir ans Herz gewachsen. Manche sogar ganz besonders...
Ich drückte also auf den STOP-Knopf und signalisierte dem Busfahrer somit, dass er an der Haltestelle 'Villa Lave' anhalten solle.
"Wollen Sie wirklich HIER aussteigen?" fragte der Fahrer ebenfalls durch die Mikrofonanlage. Er klang verwundert. Anscheinend hielt er nicht oft an dieser Haltestelle. Mein Daumen fuhr nach oben, sprechen tat ich nicht, ich mag es nämlich nicht, wenn man schreit. Ich stand auf, und schnallte den Rucksack auf den Rücken.
"Auf Wiedersehen" sagte ich so leise, dass selbst jemand, der direkt neben mir stehen würde, es nicht verstanden hätte, und stieg aus.
Da wären wir also...
Ich stand auf einer hellgrünen Wiese und konnte eine leichte Brise spüren, welche mir ein kühles, angenehmes Gefühl gab, nachdem ich die letzten Stunden in dem stickigen, nicht gerade gut riechenden Bus verbrachte. Ich holte mein Smartphone aus meiner rechten Hosentasche und schaltete die Musik aus, bis ich etwa eine Sekunde später merkte, dass ich mein derzeitiges Lieblingslied Wicked Games von Ursine Vulpine doch gerne noch zu Ende hören wollte. Ich schloss die Augen und lauschte diesem wunderschönen, leicht epischen Lied.
No, I don't wanna fall in love... with you!, war der letzte und auch der am intensivsten von mir gefühlten Satz. Ich liebe diese Stelle. Während die Interpretin diesen Satz immer wieder sang, stellte ich mir vor, was auf mich zukommen könnte. Ich dachte an meine Freunde. An Paul, meinen besten Freund, mit dem ich schon so einiges erlebt habe. An Karoline, welche ich über Umwege noch zu dem Wochenende einladen konnte und mir seitdem sie im letzen Sommer in unseren Studiengang gestoßen war, nicht mehr aus dem Kopf gehen möchte. Es kamen mir aber auch einige ungewisse Gedanken. Wie würden die Tage verlaufen? Was passiert, wenn das alles vorbei ist? Wie reagieren Paul und Jana aufeinander? Sie hatten ihre Beziehung vor erst 5 Tagen beendet, wie ich per Instagram erfuhr und seitdem noch nicht die Möglichkeit hatte mit den beiden zu sprechen. Meine Gedanken wurden von einem Klingeln unterbrochen. Ich öffnete meine Augen und schaute auf das Display meines Smartphones. Es war Ian. Er rief mich an.
„Hi Ian"
„Robbi, mein Bruder! Alles fit bei dir?"
„Äh, ja... Ja klar, wieso fragst du?", ich war total verwundert, warum er mich anrief, denn das Treffen war um 17:00 Uhr geplant. Ich war also nicht zu spät.
„Ich habe mich nur gefragt, warum du mit geschlossenen Augen auf der Wiese stehst und nicht aufs Gelände kommst..." er lachte am Ende des Satzes.
Ich schaute mich wild um, konnte ihn aber nirgends sehen.
„Bro, schau mal nach oben"
Ich folgte seiner Anweisung und sah eine Drohne, die Ian anscheinend von der Villa aus steuerte.
„Dein Hosenstall ist offen, Bro!" sagte Ian lachend.
Peinlich berührt schloss ich den Reißverschluss meiner schwarzen Jeans und war wirklich froh, dass Ian dies über die Kamera der Drohne bemerkt hat.
„Du hast mir was erspart, Mann. Danke!" antwortete ich.
„Wie kommst du eigentlich an so ein Teil? Und wofür brauchst du sowas?" fragte ich ihn, während er die Drohne in die Höhe stiegen ließ.
„War irre teuer. Aber guck, hat sich schon gelohnt. Wir wollen doch nicht, dass die Ladies dich schon jetzt mit offener Hose sehen..." sagte Ian erneut lachend.
„Was soll denn das ‚jetzt schon' heißen? Hast du geplant, dass wir an diesem Wochenende alle unsere Hosen verlieren oder wie?" fragte ich.
„Hab gehört, es sind wieder fast alle verfügbar..." antwortete er in einer leicht flirtenden Stimme.
Ich schüttelte einfach den Kopf und sagte ihm, ich würde nun zur Villa kommen.
„Folg' einfach der Drohne, mein Freund!" sagte Ian und steuerte jene von in Richtung der Villa Lave, welche ich aus der Ferne hinter dem riesigen Metallzaun sehen konnte.
Sie war wirklich prächtig. Ein unglaublich großes Gebäude mit gelb-gestrichenen Außenwänden, unzähligen Fenstern, einer Grünflache, die größer als jedes Fußballfeld war und dieser gigantische Zaun, der ein elektrisches Tor hatte, durch das ich wohl gehen sollte.
„Was eine leise Drohne..." murmelte ich vor mich hin. Ich hatte sie überhaupt nicht gehört, obwohl ich bisher dachte, Drohnen seien durch die Propeller sehr laut.
Ich setzte mich also in Bewegung, schaute auf meine Armbanduhr, in der Hoffnung, ich hätte nicht zu lange mit Ian geplaudert und wäre zu spät. Aber nein, es war erst 16:50 Uhr. Also waren es noch 10 Minuten bis zum angedachten Treffen in der Villa Lave. Aber wie ich meine Freunde kannte, war ich mir todsicher, dass noch niemand Ian Gesellschaft leistete.
Genau in diesem Moment klingelte mein Smartphone erneut. Es war eine Nachricht von Ian.
„Der Code für das Tor ist 2204! Trefft mich im Foyer für den Aperitif!"
„2204. 22. April. Ian, du bist so einfallsreich...Bin in 5 Minuten da!" antwortete mein bester Freund Paul direkt hinterher.
Ich schaute mich um, ob ich ihn schon irgendwo sehen konnte, aber vergebens. Ich lief die letzten Meter zum Metalltor, gab den Code ein und betrat das Grundstück, nachdem sich das Tor automatisch öffnete und danach wieder schloss. Es klang so, wie wenn dutzende Türen ins Schloss fallen würden. Das Tor muss ohne die richtige Zahlenkombination zu 100 Prozent sicher sein. Als ich links um die Kurve ging sah ich an der großen kastanienbraunen Tür, welche den Haupteingang signalisieren sollte eine Frau stehen, die anscheinend vergeblich eine Klingel oder etwas Ähnliches suchte. Sofort erkannte ich, dass es sich um Theresa Botterill handelte. Erkennen konnte ich sie an ihren wirklich schönen, blonden Haaren, die ihr bis an die Oberseite ihres Rückens gingen. Es sah so aus, als hätte sie sich die Haare ein wenig lockig gemacht. Genau wie für Ian schien das Wochenende auch für Theresa etwas besonderes zu sein, den sie hat sich wirklich sehr hübsch gestylt und angezogen. Eine weiße Bluse, welche sie in ihre hellblaue Jeans gesteckt hat, konnte ich von hinten sehen. Für mich war es keine Überraschung, denn Theresa war wirklich immer top gestylt. Ich konnte sie mir auch nicht in einer Jogginghose und einem Hoodie oder so etwas vorstellen. Rechts neben ihr stand ein kleiner rosafarbener Rollkoffer, indem sich wahrscheinlich ihre anderen Outfits für die drei Tage befanden.
„Hallo Theresa!"
Sie drehte sich leicht erschrocken um.
„Hey Robbi! Wie geht's dir?"
Sie kam auf mich zu und wir umarmten uns. Sie war eine wirklich nette Person, mit der ich in unserem Studium schon viel Zeit verbracht habe.
„Mir geht es gut, ich hoffe dir auch. Du siehst echt toll aus!" antwortete ich.
„Oh, du bist aber lieb, vielen Dank!" sagte sie lächelnd. „Was ein krasses Areal oder?"
„Unglaublich, ja. Da hat Ian echt einen reichen Onkel gehabt..."
„Total gruselig, dass man nichts über den Tod des Onkel weiß..." sagte Theresa und schaute sich leicht verängstigt um.
„Ja echt..." sagte ich und fragte mich, wie das sein könnte und was die Polizei bitte für einen Job gemacht hat.
„Robbi, hast du das von Paul und Jana gehört?" fragte Theresa und ich merkte, wie sich ihre Körperhaltung veränderte.
„Ja, habe ich bei Instagram gesehen. Kam ganz schön aus dem Nichts..."
„Diese beschissene Jana hat Paul gar nicht verdient gehabt! Ich habe sowieso nie verstanden, was er an dieser arroganten Kuh fand..." sagte Theresa mit leicht arroganter Stimme. Sie und Jana konnten sich auf den Tod nicht ausstehen. Jedoch gehörten beide zum Freundeskreis, weshalb auch beide an diesem Party-Wochenende eingeladen wurden.
„Ich weiß nicht, warum ihr euch nicht versteht. Zu mir war sie bisher immer total nett." sagte ich. Ich verstand mich wirklich immer gut mit Jana. Sie ist manchmal sehr dominant, aber nicht zu mir, weswegen ich Theresa's Meinung nicht hundertprozentig unterschreiben konnte.
„Wenn ich schon daran denke, sie gleich ertragen zu müssen, kommt es mir schon hoch..." sagte sie und rollte mit den Augen.
„Das kriegen wir schon hin. Halt' dich an mich" ermutigte ich sie. „Komm, lass uns jetzt mal rein gehen. Soll ich deinen Koffer nehmen?"
„Du bist einfach zu lieb für diese Welt, Robbi!" sagte Theresa lächelnd, als ich mir den Rollkoffer schnappte und an die große Tür klopfte. Jene öffnete sich und vor uns stand der Besitzer der Villa, Ian mit einer Fernsteuerung in der Hand und einem breiten Grinsen...

Wake Up... Der introvertierte HeldWo Geschichten leben. Entdecke jetzt