1. Glas

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"Verpiss dich!"

Die Worte taten weh, sie schmerzten in ihren Ohren so sehr, als würde ihr jemand heißes Pech hineinlaufen lassen, das sich langsam in ihren Kopf hineinfrisst und alles zerstört.

Sie schaute ihre Mutter an, Tränen standen in ihren Augen. Tränen, die sie nicht weinen wollte, weil sie keine Schwäche zeigen mochte.

Sie wollte stark sein und ihrer Mutter nicht diese Genugtuung gönnen. Diese abnormale Freude, die sich jedes Mal aufs Neue in ihrem Gesicht breitmachte.

Normalerweise macht Freude und Glück einen Menschen schön. Doch ihre Mutter machte es hässlich, so unsagbar hässlich, dass sie nur noch stärker gegen die Tränen ankämpfen musste.

Freude stand ihrer Mutter nicht. Vielleicht, weil sie sie nicht verdiente.
Eigentlich verdient jeder Freude, aber nicht sie. Sie macht jegliche Freude bei ihren Mitmenschen kaputt und ertränkt das Glück, das ihr dadurch zuteil wird in Alkohol.

Das war ihre Waffe. Dieses Gebräu, das ihre Sinne umnebelte und ihr zuzuflüstern schien, sie solle alles zerstören, nur um sich selbst zu schützen.

Doch es war, als würde man auf Glas einschlagen. Zwar zerstörte man die durchsichtige Platte damit gänzlich, aber die Scherben zerstörten die Hand auch. Nur ein wenig, aber wenn man oft genug auf das Glas einschlug, dann schmerzte einem die Hand irgendwann so sehr, dass man nicht mehr kämpfen konnte.

Vielleicht würde auch ihre Mutter irgendwann nicht mehr kämpfen können.

Ihre Tochter war das Glas. Zerbrechlich, zierlich, unscheinbar, schwach.
Sie hatte noch nie ihre Splitter in das Gewissen ihrer Mutter gejagt, denn sie wusste sicher, dass diese nur noch mehr auf die dünne Glaswand einschlagen würde, solange, bis nichts mehr davon übrig blieb.

Doch nun war es an der Zeit, auch einmal zurückzuschlagen. Nicht zu sehr, nur so, dass sie gerade merkte, dass auch dieses Glas zersprungen war.

Vielleicht hatte sie gar nicht bemerkt, wie zerstört und schwach es schon war. Bald drohte es in sich zusammenzubrechen.

Und dann lagen all die Scherben am Boden und niemand würde da sein, um sie aufzusammeln. Niemand würde es bemerken, denn das Glas war unscheinbar, durchsichtig.

Nur, wenn man mit dem Fuß darauf herum trat, bemerkte man, dass da etwas am Boden lag, zerstört, kaputt.

Doch dann würde bereits jede Hilfe zu spät sein.

Eine Hand voll Splitter konnte man wieder zusammensetzen, vielleicht sogar zwei oder drei, wenn man sich wirklich kümmerte.

Doch es würde nicht mehr lange dauern, dann läge sie in tausend Stücken am Boden und würde warten, bis der Wind sie davon trug, weit weg von all dem Leid.

Dann würde sie niemand mehr erreichen können und niemand mehr würde ihre Bruchstücke zusammensetzen können.

Dann wäre all die Mühe umsonst gewesen, die sie gebraucht hatte, um sich, ihren Körper und ihren Geist zusammenzuhalten, nicht zu zerspringen.

Dann wäre sie verstreut in alle Richtungen, ohne Hoffnung, dass noch irgendjemand ihr helfen konnte.

Auch die Flaschen mit dem Alkohol waren aus Glas.
Aber nicht ihre Mutter schlug ein auf dieses Glas, sondern das Glas auf sie.

Es war starkes Glas, zu stark führ ihre Mutter. Es zwang sie dazu, auf das noch schwächere einzudreschen, ganz so, als wolle es sagen:

»Ich bin das stärkere Glas, nur ich kann überleben.«

Und ihre Mutter schien das zu glauben, ließ sich davon in die Knie zwängen und ihr einziger Ausweg war der, selbst etwas zu tun. Und das tat sie auch.

Sie zerstörte ihr Kind, so wie der Alkohol sie zerstörte.

Und je stärker der Alkohol wurde, desto stärker musste auch sie sein, um nicht unter seiner Last zusammenzubrechen.

Doch auch die Tochter, die all die Eskapaden abbekam, würde irgendwann brechen.

Und deswegen musste sie fort von ihrer Mutter, konnte ihr nicht länger die Stütze sein, die sie all die Jahre für sie war.

Nun würde das Glas ganz alleine auf ihre Mutter einschlagen und sie zerstören, denn die Tochter folgte, zum ersten Mal seit ewiger Zeit, der Bitte ihrer Mutter.

"Verpiss dich!"

Das Pech hatte sich bereits seinen Weg gebahnt, doch noch konnte sie es loswerden.

Sie wich der Faust ihrer Mutter aus, passte auf, dass sie dabei nicht in kristallene, winzige Scherben zersprang und eilte zur Tür.

Ihre Mutter lief ihr hinterher, doch sie war schneller. Vielleicht war sie doch noch nicht so kaputt, wie ihre Mutter es war. Vielleicht war der Alkohol doch nicht das stärkere Glas.

Sie wusste es nicht, aber nun war es egal.

Der kalte Wind bließ ihr entgegen, tat weh auf ihrer blassen Haut, streifte ihre Wangen und hinterließ ein Gefühl, als würden tausend kleine Messer in ihr hübsches Gesicht stechen.

Sie musste aufpassen, dass der Wind sie nicht davon wehte, ihre Splitter zerteilte und ihren Geist von ihrem Körper trennte.

Es gelang ihr.

Sie rannte, rannte einfach nur und ließ ihre Mutter weit, weit hinter sich.

Glas PoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt