4. Wärme

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Die Tochter war erschöpft.
Sie lehnte sich an eine Wand, die kalt war und grau.
Sie war alleine.
Alleine mit dem schlechten Gewissen, alleine mit der kräftezehrenden Aufgabe, ihre Splitter beisammenzuhalten.

Alleine in der großen, weiten Welt.

Oder doch nicht?

"Kleines Mädchen, schau mich an."

Die Tochter erschrak.
Sie drehte sich um und sah in das Gesicht eines freundliches Mannes, dessen Gesicht verdeckt wurde von einem langen, grauen, verfilzten, dreckigen Bart.

Dunkle Ringe umspielten die stahlgrauen Augen des Mannes.
Er trug eine Mütze, einen langen, dreckigen Mantel, eine kaputte Hose und vebrauchte Schuhe.

Und er hielt eine Glasflasche in der Hand.

Mein Blick musterte ihn eindringlich. Die Flasche machte mich misstrauisch. Doch der Blick des Mannes milderte die Kälte in ihrem Herzen ein wenig.

Es war vielleicht genauso wie bei ihrer Mutter. Vielleicht würde sie sich gleich auf ein tückisches Spiel einlassen, aus dem sie nicht mehr fliehen konnte. Vielleicht würde sie Wärme spüren.

Möglerweise würde dies dann gar keine echte Wärme sein, vielleicht.

"Nicht so schüchtern", sprach der Bärtige mit der Flasche.
"Wieso bist du hier? Du frierst ja total."

Die Tochter war immer noch misstrauisch, sie wollte nicht den selben Fehler begehen wie ihre Mutter.
Und dennoch, die Wärme war so verlockend.

Und so sprach sie, erzählte von dem Glas, von dem Papier, von der Kälte.

Und der Mann hörte ihr zu. Möglicherweise sah er alles genauso, verstand, was sie meinte, vielleicht.

Doch möglicherweise sah er die Welt mit ganz anderen Augen, vielleicht.
Dann war die Welt durch seine grauen Augen eine ganz andere Welt wie die, die die Tochter durch ihre grünen Augen wahrnahm.
Vielleicht.

Der Mann mit dem Bart nickte ihr zu.
"Komm mit, folge mir."

Die Tochter wusste, dass es leichtsinnig war, dieser Wärme zu folgen, nur weil es so verlockend war.

Doch die Tochter wusste auch, dass es leichtsinnig war, vor der Kälte ihrer Mutter zu fliehen.
Oder dass es leichtsinnig von ihrer Mutter war, Papier mit Glas ergänzen zu wollen.
Und dass es leichtsinnig war, ihre Tochter zerspringen zu sehen, ohne etwas zu tun.

Möglicherweise war alles leichtsinnig.
Vielleicht machte es deswegen auch gar keinen Unterschied, ob sie der Wärme des Mannes mit dem Bart nun folgte oder nicht. Vielleicht.

Also folgte die Tochter dem Mann.
Sein Bart bedeckte sein Gesicht so sehr, dass sie es gar nicht richtig sehen konnte.

Sein Gesicht war wie ein wunderschönes Blumenbeet, das von Unkraut so überwuchert wurde, dass man die Blumen und Sträucher nicht mehr sah, wenn man sich nicht darum kümmerte.

Vielleicht hatte man sich also auch um den Mann nicht gekümmert, vielleicht war auch er kalt.
Vielleicht hatte auch er sich von der Wärme des starken Glases beirren und hinters Licht führen lassen.

Oder vielleicht war er auch einfach nur faul.

Möglicherweise hatte er auch alle verscheucht, die ihm Wärme hatten geben wollen und war deswegen alleine mit dem Glas.

Vielleicht war er ja auch egoistisch gewesen. Oder die anderen waren egoistisch.

Möglicherweise waren das alle.

Sie liefen und liefen. Die Beine der Tochter begannen wehzutun, aber sie hielt durch, hielt die Splitter zusammen und klammerte sich an der Hoffnung fest, die die Wärme des Mannes mit dem Bart spendete.

Möglicherweise war er doch nicht so egoistisch, ganz vielleicht.

Irgendwann dämmerte es und die Kristalle, die vom Himmel fielen, hatten nun eine Decke über das Land gelegt, die nicht warm hielt, so wie die in einem wohligen Bett.

Die Tochter hatte zu Hause auch ein Bett. Das war kalt. So wie sie. So wie die Decke hier.
Also machte es möglicherweise doch gar keinen Unterschied, ob sie nun zu Hause in ihrem Bett war oder hier draußen in der großen, weiten Welt.

Der Mann mit dem Bart blieb stehen.

"Wir sind da."

Die Tochter blickte auf einen kleinen Verschlag. Groß genug für zwei Leute, mit Decken, die wärmer waren als die kalten Kristalle.

"Du kannst heute hier bleiben."

Er hob das Glas und nippte daran. Die Flasche beschlug durch seinen warmen Atem.

Der Mann mit dem Bart machte sich ganz klein und setzte sich in seine kleine Höhle, wo er sich in seine warme Decke kuschelte.
Dann winkte er mit der Hand.

"Komm doch rein."

Die Tochter machte sich auch ganz klein und schlüpfte zu ihm unter den Verschlag, kuschelte sich in die Decke, ganz nah an ihn.

Der Mann mit dem Bart war so warm.

"Ich würde dir ja auch was geben."

Der Mann mit dem Bart tippte auf das Glas.

"Aber es betrügt dich. Es schmeckt so sinnlich, benebelt deinen Kopf. Aber der Neben bleibt. Er hat mich ganz kalt gemacht."

Möglicherweise war der Mann wohl doch nicht warm.

Die Tochter war erschöpft.
Die Wärme, die vielleicht doch ganz kalt war, machte sie träge.

Sie schlief ein.

Glas PoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt