5. Hell

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Als die Tochter die Augen aufschlug, war alles ganz hell um sie.
Und alles war ganz warm um sie.

Sie blickte sich um.
Auch draußen war es hell, außerhalb des Verschlages.
Der Tag war schon angebrochen.

Die Tochter schaute zu dem Mann mit dem Bart.
Er schlummerte friedlich, oder vielleicht auch nicht so friedlich.
Er wirkte ja auch warm und war eigentlich kalt.

Möglicherweise war es draußen auch gar nicht hell, vielleicht.

Der Mann mit dem Bart öffnete die Augen.

"Guten Morgen, Kleine."

Lange schwiegen die beiden in die Helligkeit und Wärme hinein.

Irgendwann meldete sich der Mann erneut zu Wort.

"Kleine, wo willst du jetzt eigentlich hin?"

Die Tochter erklärte ihm, dass sie in die große, weite Welt hinauswollte, in die Wärme, damit ihre Splitter nicht zersprangen.

"Dann solltest du jetzt aufbrechen, Kleine", sagte der Mann mit dem Bart und lächelte ein warmes, helles Lachen.

Also stand die Tochter auf.
Sie verabschiedete sich von dem Mann und dankte ihm.

Vielleicht war es egoistisch, ihn alleine mit dem Glas hier in dem Verschlag zu lassen. Aber dann war es auch egoistisch von ihm, dass er sie alleine mit ihren Splittern hinaus in die große, weite Welt schickte.
Vielleicht.

Die Tochter ging weiter.
Mit dem Verlassen des Mannes mit dem Bart verließ sie auch die Wärme, die sie umgeben hatte.
Und wie er egoistisch war.
Möglicherweise war sie es auch.

Sie lief weiter, irrte umher in der Helligkeit, ganz ohne jegliche Orientierung.

Sie wusste nicht, wo sie war.
Aber sie sah, dass es hell war.

Die kalte, helle Decke aus winzigen, unscheinbaren Kristallen wurde immer dicker und dicker, ließ die Tochter immer und immer kälter werden.

Doch sie lief weiter in die große, weite, helle Welt hinaus.

Hell und warm passte zusammen, nicht hell und dunkel, nicht hell und kalt, nicht Glas und Papier.

Die Tochter dachte oft an ihre Mutter.
Hatte sie endlich das Papier gefunden, dass sie schon so lange suchte?
Oder suchte sie immer noch?

Möglicherweise hatte sie auch schon lange aufgegeben damit, das Papier zu suchen.
Vielleicht kontrollierte das Glas sie schon zu lange.
Vielleicht gab es für ihre Mutter gar keine Helligkeit mehr.

Aber müsste sie dann nicht auch ihr verwehrt bleiben?
Möglicherweise sahen die anderen Menschen auch dunkelheit, vielleicht.

Die Tochter lief der Dunkelheit entgegen, lief immer weiter.
Sie vermisste den Mann mit dem Bart.
Sie vermisste seine Wärme und seine Menschlichkeit.

War jeder menschlich, nur weil er ein Mensch war?
Oder gab es auch Menschen, denen die Helligkeit vollends verwehrt blieb?
Vielleicht hatten diese Menschen die Helligkeit noch nie gesehen.

Dann gab es für manche Menschen nur Dunkelheit.

Aber brauchte ein Mensch denn nicht Licht, um zu wachsen und zu gedeihen, um sich zu entwickeln und um zu überleben?

Menschen waren wie Pflanzen.
In der Helligkeit wurden sie groß, stark, widerstandsfähig, kraftvoll, schön, warm und prächtig.

Aber Pflanzen verkümmerten, wenn sie die Helligkeit nicht sahen.

Sie wurden dann welk, traurig, kaputt, zerbrechlich, leichtsinnig, brutal, grausam, einsam, unmenschlich und kalt.

Aber dann war auch die Tochter unmenschlich.

War es unmenschlich, ihre Mutter alleine zu lassen in ihrer Dunkelheit, wo sie verkümmerte?

War ihre Mutter dann nicht auch unmenschlich? Oder hatte das Glas sie nur unmenschlich gemacht?

Vielleicht war aber auch das Glas unmenschlich und dunkel und es wirkte nur so, als wäre es ihre Mutter.

Das Glas war schließlich immer noch durchsichtig und egoistisch.

Bestimmt war nicht ihre Mutter schwach, unmenschlich, egoistisch und umhüllt von der Dunkelheit, sondern nur das hinterlistige, tükische Glas.

Dann war ihre Mutter doch ein guter Mensch, der die Helligkeit sehen durfte und konnte.

Vielleicht war dann auch die Tochter ein guter Mensch.
Möglicherweise sah sie deshalb die Helligkeit.
Und vielleicht sah deshalb auch der Mann mit dem Bart die Helligkeit und wirkte so warm, obwohl er ganz kalt war und ganz unscheinbar in seinem Verschlag saß, alleine, mit dem Glas in der Hand.

Aber dann war der Mann mit dem Bart doch nicht egoistosch.
Möglicherweise war er das nicht, möglicherweise auch nicht die Mutter oder die Tochter.

Vielleicht war es doch niemand.

Alles war möglich, wenn man es aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete.

Die Tochter lief immer weite der Helligkeit entgegen.



Die Tochter merkte nicht, dass die Helligkeit sie nur trügte, so wie das Glas ihre Mutter und die Wärme den Mann mit dem Bart.

Glas PoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt