3. Kälte

78 18 4
                                    

Sie rannte die Straßen entlang, die Straßen und Gassen, die mindestens so kalt waren wie ihr Herz es war, das zu zerspringen drohte und dennoch waren sie viel wärmer.

Sie wurde schwächer.

Die Zeit hatte sie vergessen, so wie sie zu vergessen versuchte, was sie fühlte:
Ein schlechtes Gewissen.

Darüber, dass sie ihre Mutter ihrer Kälte überlassen hatte und mit ihrer Eigenen davongelaufen ist.

Vielleicht lief sie erst seit ein paar Minten, vielleicht schon seit einer Stunde, vielleicht schon den halbten Tag. Vielleicht.

Schnee fiel ihr entgegen, kleine, kalte Flocken, die nun wie winzige Kristalle auf ihrem Gesicht und auf dem Boden zu erliegen kamen.

Sie waren so klein und unscheinbar und doch so wunderschön.

Die Tochter blieb stehen und kniete nieder. Der Schmerz, der durch ihre Beine jagte, als diese den kalten Boden berührten, störte sie nicht im geringsten.

Mit zittrigen Händen griff sie in die Schneedecke, die sich nun bildete. Sie hinterließ einen Handabdruck.

Die Schneekristalle waren wie die Tocher.

Sie waren kalt, klein und unscheinbar, aber dennoch auch wunderschön. Wer nicht genau Obacht gab, dem blieb diese Vollkommenheit verwehrt, doch wer ganz genau hinschaute und sich bemühte, der konnte sich von der zarten, eisigen Schönheit in ihren Bann ziehen lassen.

Nur wenige wussten diese Besonderheit zu schätzen. Die meisten Leute hielten sich fern, weil ihnen der Frost nicht bekam, der mit ihrer Nähe verbunden war.

Langsam begannen die Knie der Tochter immer mehr zu schmerzen und so stand sie auf, klopfte sich vorsichtig und behutsam die wunderschönen, winzig kleinen Schneekristalle von ihrem kalten Körper und dachte nach.

Sollte sie weitergehen?
Sie wollte nicht zu ihrer Mutter zurück.
Sie konne es auch gar nicht.
Sie war viel zu schwach.

Also ging sie weiter die Straße entlang.
Sie ging einfach weiter ohne genau zu wissen, wohin ihre Beine sie tragen würden.

War es überhaupt nötig, das zu wissen?
Oder war es egal?
Alles war egal, ganz eigentlich.
Aber ganz eigentlich war auch alles und jeder wichtig.

Ihre Mutter war wichtig, der Alkohol war wichtig, sie selbst war wichtig. Ihr Wohlbefinden war wichtig.
Der Schnee war wichtig und die Straßenlampen, die Fußstapfen, die sie hinterließ.
Die Splitter, aus denen ihr Körper bestand, jeder einzele war wichtig.

Doch auch, wenn alles wichtig war, auf seine ganz eigene Art und Weise, so kümmerte sich doch niemand um alles.

Im Vergleich zu allem kümmerte sich jeder um nichts.

Ihre Mutter kümmerte sich nicht um sie, nicht um ihr Wohlbefinden, nicht um sich selbst, nicht um ihre kleine Wohnung, nicht um genug zu Essen, nicht um Geld.

Nur um genug Alkohol, um genug Glas, das sie immer mehr und mehr einnahm.

Wieso ließ sie das nur zu?

Vielleicht war ihre Mutter egoistisch, vielleicht.

Vielleicht war das jeder.

Vielleicht war die Tochter egoistisch, weil sie davonlief, um nicht zu zerspringen.

So gesehen war alles irgendwie, irgendwann, irgendwo bei irgendjemandem egoistisch, falsch und Kalt.

Vielleicht war das einfach der Mensch.

Aber dann konnte es der Tochter auch egal sein, dass sie ihre Mutter alleine gelassen hatte mit ihrer Kälte, nur um ihre eigene zu wärmen.

Schließlich hatte sie sich diese Kälte selbst geschaffen und auch in das Herz ihrer Tochter eingehaucht, so lange, bis der Druck des Frostes dieses fast zum Zerbersten brachte.

Doch ihre Mutter hatte sie weiter in ihr Herz gepflanzt, ganz egoistisch.
Vielleicht war die Flucht ihrer Tochter nur das Tribut für diese Schandtat.

Möglicherweise hatte die Tochter dann richtig gehandelt, oder sie Beide falsch.

Möglicherweise war alles möglich, wenn man es nur aus dem richtigen Blickwinkel betrachtete.

Möglicherweise waren gar nicht die Mutter und die Tochter kalt und es fühlte sich nur so an, weil ihre Umgebung so kalt war.

Möglicherweise war ihre Umgebung aber auch nur durch sie so erkaltet.

Die Tochter lief weiter und weiter, sog die kalte, eisige Luft ein, tief in ihre Lunge. Das Gefühl, welches diese Luft verursachte, war schmerzhaft und schön zugleich.

Schmerz durch die Kälte, doch Schönheit durch die Jugend der Luft, die ihre Lungen bei jedem Atemstoß in Form von kleinen Wölkchen verließ und in den kalten Wind stieß, wo ihr Atem fortgetragen wurde in die große, weite Welt.

Dort wollte die Tochter auch hin.
Weit weg von allem Bösen.

Vielleicht würde die Kälte da draußen verfliegen, so wie ihr Atem.

Vielleicht würde der Wind auch sie überall verteilen.
Dann wäre sie auch einer von den winzig kleinen Schneekristallen, die so unscheinbar und eisig waren, kaum beachtet und dennoch von jedem gesehen.

Vielleicht war sie das auch jetzt schon.

Glas PoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt