2. Papier

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Der Wind hat sie fortgetragen, weit gebracht, an einen Ort, den sie nicht kennt. Aber sie muss ihn auch nicht kennen. Hauptsache, sie ist weg und kann langsam versuchen, die Scherben wieder zusammenzusetzen, die ihr Leben so lange bestimmten.

Sie versuchte, sich zu erinnern.
Wann hatte ihre Mutter aufgegeben, gegen den Alkohol anzukämpfen?
Hatte sie je aufgegeben oder war ihr unbändiger Hass auf sie, der ihren Körper schwer machte wie Blei, nur ihre ganz persönliche Art, zu kämpfen und stark zu sein?

Ihre Mutter war immer eine Kämpferin.
Ihre Mutter hatte auch um ihren Vater gekämpft, hatte dafür gekämpft, dass er da bleibt, doch die Ehe der beiden ist zerrissen wie Papier.

Sie war einfach vorbei und nur noch Fetzen waren übrig. Seine eigenen Fetzen hatte ihr Vater mitgenommen und sie waren auf sich alleine gestellt.

Sie mussten allein versuchen, aus dem halben Blatt, das ihnen noch geblieben war, wieder ein ganzes zu machen.

Doch das war unmöglich.
Eine Hälfte fehlte. Zuerst hatte ihre Mutter sich mit anderen Männern verabredet, ganz oft, zu oft vielleicht. Vielleicht auch nicht.

Sie hatte versucht, die eine Papierhälfte, die mit ihrem Vater verloren gegangen war, durch eine andere, neue, hoffentlich bessere zu ersetzen.

Doch die Fetzen wollten und wollten einfach nicht zusammenpassen. Immer war irgendetwas daran, immer war da ein kleiner Fehler, der die Flickstellen ungleichmäßig machte.

Es war so, als würde man mit einem weißen Stück Stoff eine schwarze Hose zusammennähen wollen.

Vielleicht hielt sie beisammen, ber man konnte immer sehen, dass die Hose einmal kaputt war. Schwarz und Weiß waren eben nicht dasselbe.

Ihre Mutter versuchte noch oft, ähnliches Papier zu finden, doch der Schmerz blieb, so wie die Naht auf der Hose.

Und so zerriss das Papier immer wieder erneut in Fetzen. Und es wurden immer mehr kleine Stücke und bei jedem Misserfolg wurde es wieder etwas schwerer, sie zusammenzulegen, bevor man von neuem nach dem passenden Gegenstück suchte.

Ihre Tochter hatte damals oft dabei geholfen, die ganzen Fetzen wieder zu der einen Papierhälfte zusammenzusetzen, die ihre Mutter war und zerriss dabei selbst oft genug beinahe, so als wäre auch sie nur ein unbedeutendes Stück Papier.

Irgendwann, da kam der Tag, da reichte es der Mutter.

Zu oft musste sie feststellen, dass Schwarz und Weiß nicht dasselbe waren, dass sie zusammen nicht die selbe Farbe ergaben, sondern zu einem hässlichen, trostlosen, traurigen Grau wurden, ohne jegliche Hoffnung.

Und so versuchte ihre Mutter, die andere Hälfte des Papier durch irgendetwas anderes, besseres zu ersetzen.

Doch Papier war eben nicht dasselbe wie Glas.

Es scheinte nur zu funktionieren, weil die Farbe des Papieres sich unter dem durchsichtigen Glas nicht veränderte, aber die beiden Dinge konnten nicht miteinander verschmelzen, zu unterschiedlich waren sie.

Die Tochter erkannte das sofort.

Doch die Mutter ließ sich von dem Schein der unveränderten Farbe des Papieres irren, hinters Licht führen und dann schamlos ausnutzen.

Sie schnitt sich an den scharfen Stellen des Glases, doch sie bemerkte es gar nicht.
Und wenn sie doch einmal auf ihr Blut aufmerksam wurde, so schob sie es auf das dünne Papier.

Doch es war nicht ihre Schuld.

Ihre Mutter aber war zu schwach, um gegen dieses Wissen anzukämpfen, zu schwach, um zu sehen, was geschah, was das Glas mit dem Papier machte.

Vielleicht wollte sie es auch gar nicht sehen. Vielleicht verschloss die Mutter ihre Augen, um nicht sehen zu müssen, dass es nicht sie selbst war, die sich zerstörte, sondern ihr hinterlistiger Freund.

Die Tochter wollte ihr immer wieder klar machen, dass das Glas sie zerstörte und ausnutzte, doch sie konnte sie nicht einmal dann davon überzeugen, wenn sie selbst schon gekrümmt am Boden lag, wo ihre Mutter sie so oft hinbrachte.

Die Mutter sah nicht, dass das Glas nicht nur sie, sondern auch ihre Tochter angriff, zerschnitt, zerschmetterte und splittern ließ.

Und nun war die Tochter entgültig fort, hatte ihrer Mutter nichts zurückgelassen, als gähnende Leere.

Und diese machte sich auch in ihrem eigenen Herzen breit.

Und sie musste die Leere dort festhalten, denn würde sie sie loslassen, würde ihr Herz zerspringen von der Kraft, die diese Einsamkeit hatte.

Es würde zerbersten von dem unglaublichen Druck, den diese alles einnehmende Dunkelheit ausüben konnte.

Also musste auch die Tochter die Kälte fortan mit sich herumtragen und sie hüten.

Auf ihrem Weg durch den kalten Winter, der sich wie eine Decke über die Lande gelegt hatte, musste sie immer mehr Kraft darin investieren, ihr Herz nicht in tausend kleine Kristalle zerspringen zu lassen.

Dabei waren Kristalle doch so wunderschön.

Glas PoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt