6. Dunkel

62 19 9
                                    

Die Tochter lief immer weiter.

Die Helligkeit verlor an Schein, wurde immer weniger, verflüchtige sich.
Es dämmerte erneut.

Die große, weite, kalte Welt wurde immer und immer kälter.
Sie wurde dunkel.
Und ihre Splitter immer schwerer und schwerer zusammen zuhalten.

Manchmal war die Tochter kurz davor, alle Splitter einfach loszulassen und in der Dunkelheit zu verteilen, doch dann dachte sie an ihre Mutter.

Möglichererweise war es ihr gegenüber egoistisch, aufzugeben, vielleicht.

Ihre Mutter hatte schließlich auch weitergekämpft. Sie hatte sich von dem Glas nicht besiegen lassen, nur trügen.
Manchmal hatte sie sich hingegeben, aber niemals hatte sie aufgegeben.

Auch der Mann hatte die Dunkelheit nicht beachtet, sondern hatte gekämpft.

Vielleicht gegen das Glas, vielleicht mit dem Glas.
Er hatte sich den Verschlag gebaut und die Decken gebunkert, sicher nicht, um egoistisch zu sein und aufzugeben.

Aber der Mann mit dem Bart war nicht ihre Mutter und ihre Mutter war nicht sie selbst.

Diese zwei Kämpfer waren erwachsen, konnten besser gegen die Dunkelheit antreten.

Wie egoistisch die Dunkelheit doch war, so wie fast alle Menschen, oder möglicherweise auch niemand.

Immer dunkler wurde es.
Es war Nacht und die Tochter trauerte dem warmen Verschlag hinterher, ja schon fast dem kalten Bett in ihrem kalten zu Hause.

Sie hatte blaue Lippen, blaue Fingernägel, blasse Haut, Beine und Arme die zitternen wie Esbenlaub.

Die Tochter wollte fliehen vor der Dunkelheit, aber wie?

War fliehen vor dem, wovor man sich fürchtet, nicht feige?

Aber dann war sie auch schon feige, als sie vor der Kälte und ihrer Mutter floh.

Dann war auch der Mann mit dem Bart feige, der sie alleine in die große, weite, kalte Welt geschickt hatte, ohne sie zu begleiten.

Dann war auch ihre Mutter feige, die sich hinter dem Glas versteckte, weil sie das Papier nicht finden konnte.

Dann war ihr Vater feige, weil er damals mit all seinen Fetzen vor ihrer Mutter und ihr davongelaufen war, ohne das Papier zurückzulassen, ohne das Beide nicht leben konnten.

Möglicherweise war jeder feige, vielleicht.

Vielleicht war Feigheit auch egoistisch.

Dann war möglicherweise alles egoistisch, vielleicht.

Auch die Dunkelheit, die die Tochter in die Knie zwang, war dann Feige.
Denn sie verdrängte die Helligkeit und die Wärme aus Angst, selbst nicht genug herrschen zu können.

Und so schaffte sie sich Platz ganz für sich alleine.
Das war wirklich egoistisch.

Die Tochter blieb stehen.
Sie wusste, dass es gefährlich war, in der Dunkelheit draußen in der Kälte zu sein, alleine in der großen, weiten, kalten Welt.

Aber es war auch gefährlich, ein einzigartiges Papier durch ein anderes ersetzen zu wollen.
Und es war auch gefährlich, alleine gegen das Glas anzukämpfen.

Die Tochter wurde auf einmal ganz müde.
Müde von der Suche nach dem Papier, müde vom Kampfe gegen das Glas, müde von dem Vermissen der Wärme vom Mann mit dem Bart, müde vom Halten der Splitter in ihrem Herzen, müde vom fliehen vor der Kälte, müde von der Suche nach der Helligkeit und müde von der großen, weiten, kalten Welt.

Und schon wieder dachte die Tochter daran, einfach aufzugeben.

Sie war so erschöpft, dass ihre zersplitterten Beine sie nicht mehr tragen wollten und so legte sie sich alleine in die Decke aus kalten Kristallen in der Dunkelheit und wartete.

Worauf wartete sie eigentlich?

Etwas frostiges lief ihre blasse Wange hinab, ihr hübsches Gesicht entlang.

Es war eine Träne.
Nicht nur eine, mehrere. Ganz viele, ganz kleine, ganz warme Tränen.

Tränen waren nie alleine.

Also war sie möglicherweise auch nicht alleine, vielleicht.

Die Kristalle um sie herum waren bei ihr.

Immer schwerer wurden ihre Augenlider, immer flacher ihr Atem, immer größer der Schmerz ihrer Glieder.

Ihre Hände spürte die Tochter nichtmehr, auch nicht ihre Füße oder ihre Beine.

Irgendwann spürte die Tochter nicht einmal mehr den Schmerz.

Sie schloss die Augen, als würde sie schlafen. In der Dunkelheit schliefen alle irgendwann, auch der Mann mit dem Bart und ihre Mutter und das Papier und das Glas.

Irgendwann war da kaum noch ein Atem, den die Tochtet ausübte.
Irgendwann verschwanden die Gedanken und es wurde immer Dunkler.

Sie begann zu vergessen, die Kälte umnebelte ihre Sinne.

Sie vergaß ihren Vater, das Papier.
Ihre Mutter, das Glas.
Die große, weite Welt und die Kälte.
Den Mann mit dem Bart und den Egoismus.
Sie vergaß, wie feige sie und die gesamte Meschheit war.

Sie vergaß, die Splitter beisammen zuhalten und schlief ein.

Ein Windhauch kam, streifte den steifen Körper der Tochter und zerrte an den Splittern, verteilte sie wie unscheinbare, unwichtige und doch wunderschöne Kristalle aus Eis in der großen, weiten, kalten Welt.

Die Tochter hatte zu Atmen vergessen.
Da war nur noch die Dunkelheit.


Irgendwann am nächsten Tag las eine kranke Mutter in der Zeitung von einer Tochter, die alleine in der Dunkelheit gefunden wurde, von einem Mann mit einem Bart, der um sie trauerte und den Egoismus, die Kälte und die Feigheit der Menschheit verfluchte.

Die kranke Mutter wünschte der Tochter, dass sie da oben im Himmel, wo sie jetzt war, Wärme, Liebe und Helligkeit fand.

Dann ließ die kranke Mutter das Glas fallen und zersprang mit ihm in tausend kleine Kristalle.

Glas PoesieWo Geschichten leben. Entdecke jetzt