Kapitel 24

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Kapitel 24

Der Schlachtenlärm brandete durch den Himmel und ließ die Fensterscheiben klirren, die Engel erzittern und um ihre Artgenossen bangen. Dort draußen, wenige Meter hinter den bisher unüberwindbaren Mauern des Himmels tobte die erste Schlacht zwischen Dämonen und Engeln seit Jahrhunderten.

Lucifer führte die Truppen auf seinem Streitross an, das ihn ohne jede Furcht durch die Reihen der Engel trug, die unter seinem Schwert fielen. Solange er ritt, trug er seine Rüstung, um gegen die gröbsten Angriffe gefeit zu sein.

Er kämpfte gegen zwei Arten von Engeln: Diejenigen, die den Helden spielen wollten und ihn direkt angriffen; und diejenigen, die erkannt hatten, dass kein Engel jemals einem Dämon würde gewachsen sein und aufgrunddessen lieber Abstand hielten, wenn er durch die Reihen der Gegner pflügte. Federn und Blut säumten seinen Weg.

Hinter sich fielen die etwas unkoordinierten Dämonen über die Truppen des Himmels her, Metall schlug auf Metall, Todesschreie klangen über das Feld, das Sirren der Pfeile, die die Engel aus der Luft pflücken würden, sobald sie sich dem Lager der Angreifer näherten, erfüllte die Luft. Dämonen dürstete es von Natur aus nach Blut und ein Krieg war eine hervorragende Möglichkeit, diese Gelüste zu befriedigen. Lucifer wusste, wenn er diesen Krieg gewann, hätte er sich die Loyalität seines Volkes auf lange Zeit gesichert.

Zwei Engel kamen in extrem niedriger Flughöhe auf ihn zu, die Gesichter hinter Helmen verborgen, doch ihre Zielstrebigkeit hätte Lucifer beinahe erschreckt. Wenn er sich nicht täuschte, würden die beiden versuchen, ihn an den Armen zu packen und aus dem Sattel zu heben, damit er hilflos in der Luft baumelte. Er kannte diese Technik, er hatte sie selbst in seiner Zeit im Himmel gelernt.

Er packte die Lanze, die er am Geschirr des Pferdes befestigt hatte – vom Pferderücken aus bot sie ihm einen größeren Angriffsradius als ein Schwert – und stieß sie einem der Angreifer entgegen. Der Engel versuchte erschrocken, in letzter Sekunde abzuwenden, sodass die Lanze lediglich seinen Flügel durchbohrte und ihm eine zweifellos schmerzhafte Bruchlandung bescherte. Der andere Engel hatte bereits Lucifers Arm gepackt, ließ ihn jedoch ebenfalls los, als er seinen Gefährten abstürzen sah.

Der Höllenkönig erwischte den Fliehenden am Flügel und zog ihn rabiat zurück. Gleichzeitig zügelte er sein Pferd so hart, dass es sich halb aufbäumte, schreiend vor Schmerz, als das Mundstück in seine Lippen schnitt. Er trieb die Klinge seines Kurzschwertes tief in den Schädel des Angreifers und ließ diesen dann fallen, sodass der Leichnam noch zusätzlich von den Hufen seines Pferdes geschändet wurde.

Die ersten Dämonen schlossen zu ihm auf, die Schlachtformation der Engel war endgültig zerstört. Lucifer riss seine Waffe in die Höhe und stieß einen Kampfschrei aus, der sofort von sämtlichen Dämonen in der Nähe aufgenommen wurde und sie donnernd über das Schlachtfeld ausbreitete. Wilder Blutdurst überkam ihn und er trieb sein schnaubendes, fauchendes Pferd in Richtung der Tore. Kein Engel wagte es, ihn aufzuhalten. Ungehindert galoppierte er auf das verheißungsvolle Tor zu; ein Symbol für die Unterwerfung des Himmels, die so kurz bevor stand...!

Er sah den herabstürzenden Engel in letzter Sekunde. Sein Pferd scheute vor dem gleißenden Licht, Lucifer verlor den Halt und stürzte. Sofort rappelte er sich auf; er musste raus aus der Rüstung, sie machte ihn zu unbeweglich für den Kampf am Boden...!

„Keinen Schritt weiter!" Die Stimme dröhnte und schien sämtlichen Schlachtenlärm zu ersticken.

Lucifer sah auf. Ein siegesgewisses Lächeln breitete sich auf seinen Lippen aus.

„Metatron", meinte er lächelnd. „Mein Bruder. Bist du wieder unter den Lebenden?"

„Nicht weiter!", wiederholte der Engel kalt. Jedes seiner drei Flügelpaare glühte in einem goldenen, göttlichen Licht, das es Lucifer unmöglich machte, sich ihm weiter als bis auf fünf Meter zu nähern. Es brannte und prickelte auf seiner Haut. Selbst Metatrons Augen glühten von innen heraus. Der Beschützer des Himmels war seiner Aufgabe wieder einmal gerecht geworden.

Gemächlich entledigte sich der Höllenkönig seiner Rüstung, unter der er ein einfaches Lederwams, das ihm im Notfall keinerlei Schutz bieten würde, trug. Aber um ihn zu verletzen, müsste jemand die Gelegenheit bekommen, ihn anzugreifen, ohne vorher mit einer Schwertklinge Bekanntschaft zu machen.

„Ich werde dich töten, wenn du dich mir in den Weg stellst!", knurrte der Dämon, noch immer gegen das himmlische Licht ankämpfend.

„Ich würde dich nicht aufhalten, wenn ich es nicht für richtig erachten würde", entgegnete Metatron, der jüngste Bruder des gefallenen Engels, ungerührt. „Gott selbst übertrug mir die Aufgabe, den Himmel vor denen zu beschützen, die vom Glauben abgefallen sind."

Lucifer biss sich auf die Unterlippe; hier gab es vorerst keinen Weg vorbei. Gegen Metatrons Schutz kam er (noch) nicht vorbei. Mit einem wütenden Knurren fuhr er herum, um sich wieder in die Schlacht zu stürzen. Sollte Metatron sehen, mit wem er sich da angelegt hatte!

Viel erschreckender noch als der Kampfeslärm war die Stille nach der Schlacht. Totenstille.

Mit unbewegter Miene wanderte Raphael durch die Reihen der Toten und verwunderten. Engel wie Dämonen eilten auf dem Schlachtfeld hin und her, um die Leichen zu bergen und im Anschluss zu verbrennen. Der Rauch der Totenfeuer stieg aus beiden Lagern auf, doch wer als Sieger dieses ersten Aufeinanderprallens zweier Urgewalten hervorgegangen war, konnte nicht bestritten werden.

Die Engel hatten furchtbare Verluste einstecken müssen, ihres Vorteils des Fliegens von einer Armada aus Bogenschützen beraubt. Nur Metatrons Standfestigkeit war es zu verdanken gewesen, dass die Tore des Himmels nicht bereits nach dem ersten Angriff attackiert worden waren.

Vor Beginn der Schlacht hatte Raphael intensiv gebetet, dass sein verbliebener Bruder heil aus diesem Massaker zurückkehrte, obwohl er wusste, dass Gott selbst wenig gegen die Mächte der Hölle ausrichten konnte. Trotzdem waren seine Gebete erhört worden. Gabriel war mit leichten Verletzungen zurückgekehrt, sein Kampfeswille jedoch ungebrochen. Raphael wünschte nur, es wäre anders.

„Wir werden verlieren." Gabriels Stimme klang fest, aber beunruhigt. „Wenn wir unsere Strategie nicht entscheidend umstellen und die Dämonen nicht wieder desertieren, dann wird es den Himmel bald nicht mehr geben..."

Raphael antwortete nicht. Er schlang die Arme um den Körper und starrte ins Leere. Gabriel betrachtete die unzähligen getöteten Engel, dann suchte er den Blick seines Bruders.

„Lucifer ist das größte Problem. Wenn man ihn beseitigen könnte, würden die Dämonen sich vielleicht zerstreuen..."

Etwas in Gabriels Stimme verriet Raphael, das in seinem Kopf grade ein gewagter Plan reifte.


LUCIFER - The Fallen AngelWo Geschichten leben. Entdecke jetzt