3. KAPITEL

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"Sie kann hier nicht bleiben! Bitte, bring sie von hier fort!" Die
rothaarige Frau im Café blickte den Mann, der ihr gegenüber saß, verzweifelt
an. Dieser erwiderte ihren Blick. Es dauerte eine Weile, bis er zu sprechen
begann. "Du weißt, es gab einmal eine Zeit, in der ich alles für dich getan
hätte. Aber denkst du wirklich, wenn ich sie von hier fort bringen würde,
wäre alles anders? Dass sie in Sicherheit wäre? Nein, sie sind überall. Du
kannst sie nicht verstecken. Sie wird immer gefunden werden. Es haben schon
andere vor ihr versucht, sich zu verstecken. Wie vielen ist es gelungen? Die
einzige Möglichkeit ist, sich ihnen entgegen zu stellen. Wir haben schon zu
lange gewartet." "Aber wenn es rauskommt, werden alle versuchen, sie für
ihre Zwecke zu nutzen. Und was glaubst du, hätten wir für eine Chance? Wenn
wir uns ihnen wirklich entgegenstellen, was ist, wenn wir noch zu schwach
sind? Was glaubst du, würde passieren, wenn sie in die Fängen des Feindes
gerät? Sie ist zu mächtig, zu wertvoll für uns, als dass wir sie verlieren
können! Dann wird sie uns gar nichts mehr nützen!" Was, wenn alles gut geht
und sowieso nicht passieren wird, dachte sie. "Wenn ich es tue, werde ich
mir jede Menge Ärger einhandeln. Sag mir, was hab ich davon, wenn ich dir
helfe? Du hast damals ihn gewählt, du würdest auch heute ihn wählen. Sie ist
seine Tochter", sagte er. Vor Verzweiflung rannen ihr Tränen über die
Wangen. Ich muss es ihm sagen. "Was ist", flüsterte sie, "wenn ich dir sage,
dass sie nicht seine Tochter ist?" Er sah sie überrascht an. Dann begriff
er, was das bedeutete. "Heißt das, sie ist..." Sie nickte nur schweigend.
"Wenn das wahr ist, warum hast du es nie gesagt?", wollte er wissen. "Ich
hatte Angst", gestand sie. "Angst davor, sie zu verlieren, wenn die es
wüssten." "Du hättest es wenigstens mir sagen können!" "Das wollte ich ja!
Aber dann musstest du weg und ich hatte keine Gelegenheit mehr dazu." Sie
senkte den Blick auf den Teller mit dem unangetasteten Stück Kuchen vor ihr.
Bei dem Gedanken etwas zu essen wurde ihr schlecht. "Wer, denkt sie, ist ihr
Vater?", fragte er weiter. Sie sah ihn wieder an. Sie brauchte nicht zu
antworten. Er sah die Antwort in ihren Augen. Langsam erhob er sich und
sagte: "Ich muss das erst mal verarbeiten und werde dir eine Nachricht zukommen
lassen, wenn ich eine Entscheidung getroffen habe." Er drehte sich um und
wollte gehen. "Jonathan", rief sie leise, worauf er stehen blieb und sich
umdrehte. "Ich habe niemals ihn gewählt." Mit diesen Worten stand sie auf,
schob sich an ihm vorbei und verließ das Café. Draußen regnete es, aber sie
bemerkte es kaum. Sie lief die Straße entlang während sie Schuldgefühle
überkamen. Sie hatte ihm Hoffnung gemacht, wo es keine gab. Sie verdiente
seine Hilfe nicht. Wenn es um sie gegangen wäre, hätte sie niemals seine
Hilfe angefordert. Aber es ging auch nicht um sie, es ging um ihre Tochter.
Sie muss leben, dachte sie und bog in die Straße, die zu ihrem Haus führte
ein. Und sie wird leben, solange ich lebe und sie beschütze.

Die nächsten Wochen verliefen ziemlich ruhig. Niemand bemerkte die
ungewöhnlich vielen Tattoos auf meinem Nacken oder das Geist-Tattoo auf
meinen Armen. Amina und Jasmin zickten fast überhaupt nicht rum, was, wie ich
glaubte, auch ein wenig daran lag, dass sie ein bisschen Angst vor mir hatten,
nachdem ich in Physik fast ihre Haare angezündet hatte. Natürlich ganz aus
Versehen! Niko hatte mir gezeigt, wie man eine kleine Flamme auf seiner Hand
entstehen ließ. Ziemlich praktisch, sich nervige Zicken vom Hals zu
schaffen. 2 Wochen vor meinem Schulwechsel brachte mich meine Mutter am
Wochenende zu meiner älteren Schwester, deren Freund Eric und ihrem
einjährigen Sohn Elias. Miria sollte mich lehren, Luft zu kontrollieren. Der
Ausflug in die Menschenwelt war wie immer aufregend. Ich war in meinem Leben
noch nicht viel gereist. Man brauchte für den kleinsten Ausflug eine
Genehmigung und nur die wenigsten Elementkontrollierer bekamen eine
Genehmigung, in der Menschenwelt zu reisen oder gar dort zu leben. Miria
und ihr Freund hatten so eine, aber auch nur unter der Bedingung, dass sie
nach ihrem Studium wieder in die welt der Elementkontroliierer gingen. In
der Menschenwelt dauerhaft zu leben wurde nicht gestattet. Wir flogen mit
einem Flugtaxi (eine Art Gondel, die aber nicht wie in der Menschenwelt an
einem Seil hing, sondern von Luftkontrollierern kontrolliert und geflogen
wurde. Flugzeuge und andere menschliche Flugobjekte gab es bei uns nicht) zu
dem Südportal, durch das wir nach Deutschland kamen. In Deutschland
verabschiedete ich mich von meiner Mutter und fuhr alleine mit dem Zug
weiter nach Hamburg, wo meine Schwester lebte. Ich liebte Zugfahren, denn
auch Züge gab es bei uns nicht. Das einzige menschliche Fortbewegungsmittel,
das wir Elementkontrollierer benutzten, was das Auto und auch das gab es bei
uns erst seit 20 Jahren. In Hamburg angekommen, war ich mal wieder
überwältigt von der Größe und Vielfältigkeit dieser Stadt. Ich war froh,
dass ich mich auf dem Weg zu Mirias Wohnung nicht verlief. Miria wartete
schon mit Elias auf dem Arm auf mich. Sie umarmte mich zur Begrüßung und
führte mich ins Wohnzimmer, wo Eric auf dem Sofa saß und fernsah. Als wir
eintraten, stand er lächelnd auf und sagte: "Hallo Nea! Ihr zwei wollte doch
bestimmt jetzt allein sein, hab ich recht? Ich werde mit Elias spazieren
gehen." Er nahm Elias und verließ das Zimmer. Ich mochte Eric. Er wusste
immer, wann er im Weg war und störte, ohne dass man es ihm sagen musste.
Nachdem Eric die Wohnung verlassen hatte, setzten Miria und ich uns auf
Sofa. "Also", begann sie, "du hat dich auf alle fünf Elemente spezialisiert
und ich soll dich die Kontrolle über Luft lehren." "Ja", antwortete ich,
obwohl es eher eine Feststellung als eine Frage gewesen war. "Dann bleiben aber
immer noch drei Elemente übrig, in denen du unterrichtet werden musst",
meinte sie. "Ich weiß, aber Mama hat gesagt, da finden wir schon noch eine
Lösung." "Kann sein, aber wie lange wird das dauern?" Miria sah mich
zweifelnd an. "Weiß ich doch nicht", antwortete ich gereizt: "Wenn du eine
bessere Idee hast..."" "Möglicherweise habe ich ja eine bessere Idee",
meinte meine Schwester geheimnisvoll. "Dann sag's doch gleich! Muss man dir
alles immer aus der Nase ziehen?", motzte ich sie an. "Ist ja gut!", rief
sie. "Du könntest dir Hilfe bei den Rebellen holen", meinte sie dann. "Die
Rebellen? Wer soll das sein? Nie von denen gehört. Wie soll ich sie
finden?", bombardierte ich sie mit Fragen. "Natürlich hast du noch nicht von
ihnen gehört. Sie arbeiten im Verborgenen. Sie zu finden dürfte für dich
aber nicht allzu schwer sein. Eric ist Mitglied der Rebellengruppe "Die
Furchtlosen". Er könnte ein Verbindung zu ihnen herstellen." "Eric ist ein
Rebell?", rief ich. "Das hast du nie erwähnt!" "Weil du es nicht wissen
musstest. Es ist nicht gerade etwas, das man überall rauposaunen sollte.
Außerdem hat er sich ihnen erst vor kurzem angeschlossen", entgegnete Miria.
"Und wie genau können die Rebellen mir helfen?", fragte ich sie. "Die
Rebellen haben Mitglieder aus allen Elementkontrollierern. Es gibt bestimmt
welche, die dich unterrichten können. Du wirst ihnen aber vorher einen
Schwur leisten müssen, dass du niemandem von ihnen erzählst." "Geht klar",
entgegnete ich. "Was genau wollen die Rebellen bezwecken?" "So genau weiß
ich das auch nicht. Ich glaube, sie wollen das Königshaus abschaffen und
unsere Gesellschaft weiter modernisieren", meinte Miria. "Wir müssten aber
Eric in alles einweihen." "Ja, aber du kannst ihm vertrauen." Ich sah sie
zuerst zweifelnd an, aber dann stimmte ich zu unter der Bedingung, ihm
nichts von meiner Spezialisierung auf Geist zu erzählen. So weit traute ich
ihm auch wieder nicht und es gab sowieso niemanden, der mich in diesem
Element unterrichten könnte. Als Eric mit Elias wieder nach Hause kam, stand
Miria auf, um mit ihm zu reden. Während ich darauf wartete, dass sie wieder
kam, ging ich im Zimmer umher und schaute mich um. Ich war erst einmal hier
gewesen und das war schon eine Weile her. Meistens kam meine Schwester zu
uns, da es so schwer war eine Genehmigung für einen Ausflug in die
Menschenwelt zu bekommen. Ich betrachtet das Bild der Göttin des Feuers, das
über dem Sofa hing. Ich wusste, dass dahinter ein Bild von der Göttin der
Luft versteckt war. Es gab für jedes der fünf Elemente eine Göttin und noch
einen "obersten" Gott, den Gott aller Elemente. Der Gott der Elemente wurde
von jedem Elementkontrollierer angebeteten (sofern man an ihn glaubte). Die
anderen Gottheiten wurden jeweils von denjenigen angebetet, die dieses
Element beherrschten. Die Göttin des Geistes wurde heutzutage von niemandem
mehr angebetet (Hey, vielleicht sollte ich das machen), sodass sie fast in
Vergessenheit geraten war. Es hieß, der Gott der Elemente habe die
Elementkontrollierer erschaffen und die Göttinnen gaben jedem
Elementkontrollierer die Magie ein oder mehrere Elemente zu kontrollieren.
Für mich klang das allerdings etwas weit hergeholt. Ich glaubte nur an das,
was ich sah und hatte deshalb nicht viel für diese Gottheiten übrig. Meine
Schwester war dagegen ziemlich gläubig und hatte deshalb überall Bilder und
Statuen der Göttin des Feuers und -versteckt- der Göttin der Luft hängen und
stehen. Ich wollte gerade weiter durch das Zimmer wandern, als Miria in
Begleitung von Eric eintrat. Eric sah mich mit großen Augen an. "Na,
beeindruckt?", fragte ich ihn. "Warum fällst du nicht gleich vor mir auf die
Knie und huldigst mir?" Ich hatte es langsam satt, von allem immer so angestarrt
zu werden (okay, alle war leicht übertrieben) und deswegen war mir die Frage
einfach so rausgerutscht. Miria sah mich warnend an, aber ich zuckte nur mit
den Schultern. Eric hatte sich inzwischen wieder gefasst und sagte: "Ich
werde die Rebellen kontaktieren und schauen, was ich machen kann." Damit zog
er ab. Wahrscheinlich musste er das Ganze erst mal verdauen. Miria brachte
Elias ins Bett und ich widmete mich dem Abendessenmachen. Ich war eine
miserable Köchin, aber Brote schmieren konnte ich. Lag vielleicht daran,
dass Messer eine meiner Lieblingswaffen waren. Okay, eigentlich müsste man
dann meinen, ich würde die Brote erstechen, aber nein, sie blieben heil.
Nach dem Abendessen telefoniert ich noch kurz mit Naya, um ihr von den
neuesten Ereignissen zu berichten.

Am Sonntag machte ich mit Miria eine Sightseeingtour durch Hamburg. Als wir
an einem Laden mit schönen Kleidern vorbeikamen, bestand meine Schwester
darauf, mir ein Kleid für den Abschlussball als nachträgliches
Geburtstaggeschenk zu kaufen. Ich suchte mir ein dunkelgrünes,
schulterfreies, bodenlanges Kleid mit einem Schlitz an der Seite aus, das
perfekt mit meiner Augenfarbe harmonierte. Dazu kamen noch ein zum Kleid
passender Schal und ellenbogenlange Handschuhe, die meine Tattoos auf Nacken
und Armen gut verdecken würde. Da wir als Reinelementfamilie ziemlich
wohlhabend waren, machte ich mir keine Sorgen, was das wohl alles gekostet
hatte. Zufrieden mit unserer Ausbeute gingen wir anschließend zu Mirias
Wohnung zurück. Bald darauf brachte mich Miria zum Bahnhof und ich fuhr mit
dem Zug zum Portal, vor dem meine Mutter auf mich wartete. Zu Hause
herrschte natürlich mal wieder das komplette Chaos. Oma Rosa und Opa Horts
stritten sich im Gemeinschaftsraum wie zwei kleine Kinder um die
Fernbedienung (Sie hätten natürlich auch jeder auf seinem eigenen Fernseher
schauen können, aber das wäre ja zu einfach und normal gewesen) und Lilia
heulte rum, weil ihr Lieblingsstofftier Günther der Löwe weg war, während
mein Vater und Onkel Niko nach diesem suchten und dabei das ganze Haus auf
den Kopf stellten. Nur Loren saß ruhig in einer Ecke und spielte mit seinen
Spielzeugautos. Da ich auf den ganzen Zirkus keine Lust hatte, stahl ich mich
auf mein Zimmer. Sunny lag in ihrem Körbchen und...kaute auf einem dreckigen
Fellhaufen rum? Ich schaute mir das genauer an. Bei näherer Betrachtung
hatte der Fellhaufen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit einem Löwen, sogar
mit einem ganz bestimmten Löwen! Oje... Ich rettete Günther den Löwen aus
Sunnys Hundemaul, bevor sie ihn vollständig zerkaute. Ich hielt ihn
angewidert am Schwanz hoch. Der Löwe war voll mit Dreck und Hundesabber.
Vorsichtig trug ich ihn nach unten und hielt ihn meiner Mutter vor die Nase:
Als sie erkannte, was ich da hochhielte, war sie entsetzt und sagte an Lilia
gewandt: "Ähm, ich glaube, Günther muss erst mal baden gehen." Lilia, die
Wasser verabscheute (eine echte Feuerkontrolliererin eben), war zuerst
sprachlos. Dann rannte sie zu mir und riss mir blitzschnell den Stofflöwen
aus den Händen. Ich schwöre, in diesem Moment fiel meine Mutter fast in
Ohnmacht, als meine Schwester den dreckigen, hundesabbergetränkten,
widerlichen, stinkenden Löwen an sich presste und ihn nicht wieder hergeben
wollte. Ich musste mir bei ihrem Gesichtsausdruck ein Lachen verkneifen und
ging wieder nach oben: Dort schimpfte ich Sunny aus, konnte ihr aber nicht
lange böse sein, als sie mich mit ihrem Dackelblick ansah.





























Girl of ElementsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt