E I N S

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"Give it up aye,
Give it to them all!
Don't try to be good,
and give it to them all!"

Heftige Gitarren und eine raue Stimme sangen mir energisch in mein Ohr, während ich aus dem warmen Bus in die kalte Berlinstraße trat. Kein Mensch, außer irgendwelchen ehrenamtlichen Helfern, die frühmorgens Müll aufsammelten, tummelten sich im dichten Nebel eines beschissenen Tages. Vor mir erstreckte sich ein grauer Block mit stählernen Eisengittern an jedem Fenster und jeder Tür. Altmodisch.

"Oh Fuck it!
Give your hatred to them,
Oh give it to them all!
So let them feel just once,
the sorrow of your everyday life!"

Der Pfefferminzkaugummi, auf dem ich jetzt wohl 3 Stunden lang rumkaute, war mehr als nur fad und die geschmacklose Konsistenz fing an, mich anzuekeln. Gott, dieser Kaugummi beschrieb mein Leben.

"So Fuck it!
They've given enough to you,
So why don't you return the favour?
Let them sink down on their knees,
And beg for their disgusting lives!"

Müde zog ich meine schwarze Kapuze über den Kopf und trottete gelangweilt Richtung Eingang, der sich gerade so als einen preisgab. Naja, ich wollte cool wirken. So ein kleines bisschen Anerkennung. Von praktisch Niemanden. Es war ja keiner Anwesend. Wie so oft in meiner Welt. Denn ich wollte nicht, dass jemand jemals diese Narben sah. Dass jemand jemals mich sah. Denn mehr war ich nicht. Ich war nicht mehr als Narben.

Ich sah Weiß. Hässliches Weiß. Ich mag Weiß nicht. So ausdruckslos. So leer. So langweilig. Also schloss ich meine Augen, doch die helle Sonne, die unpassend zu meiner Stimmung auf mein Gesicht schien und mich selbst mit geschlossenen Augen ein hässliches Hautfarben sehen ließ, machte mir einen Strich durch die Rechnung. Wohl oder übel gezwungen schaute ich mich um, erkannte in den kahlen Wänden ein Krankenhaus. Nicht schon wieder. Mein Blick wanderte zu meinem Handgelenk, das von einem weißen Verband geziert wurde. Toll. Das erste Mal, dass ich so doof bin dort anzufangen und ich treffe einen dummen Punkt. Wirklich, wirklich toll gemacht, Emily. Grimmig setze ich meine Entdeckungsreise fort.

Dieses abstoßende Weiß war so kalt und monoton, dass die blaue Blume auf dem Tisch vor mir ihren Kampf um Komfortgefühl in diesem Raum eindeutig verlor. Neben mir stand ein kleiner Schrank, auf dem ein Telefon und ein Glas Wasser inklusive irgendeinem abgedeckten Teller standen. Hunger hatte ich schon lange nicht mehr und wen sollte ich anrufen? Meine Mutter? Eher meine tote Schwester. Ich versank in meinen launischen Gedanken, sodass ich das zweite Bett im Zimmer, auf der eine alte, lesende Frau lag, erst spät bemerkte. Auf ihrer Nase stützte sich eine runde Lesebrille und sie widmete sich aufmerksam ihrer Lektüre. Manchmal schlich ein warmes Lächeln auf ihr Gesicht oder sie rückte durch verziehen ihres Gesichtes die Brille zurecht. Sie schien wie ein stetig fließender, ruhiger Fluss, während ich ein ausgetrockneter Bach war.

Irgendwann musste sie mein Starren wohl bemerkt haben, denn sie blickte auf und mir freundlich in die Augen. Meine Erwiderung kam mir müde und schlapp vor, richtig deutsch. Im Prinzip mein Leben, nachdem Lina ‚ging'. Ich konnte bei dem Gedanken ein wütendes Schnaufen nicht unterdrücken. Denn das hatten sie gesagt. Lina war ‚gegangen'. Durch eine verdammte Knarre war sie ‚gegangen'. ‚Gestoßen worden' traf es da eher. Ich- „Du hast da einen richtigen Wirbel gemacht, Liebes." Als hätte sie mithören können, unterbrach meine Bettnachbarin meinen wütenden Gedankensprint. „Bitte was?", krächzte ich kaum hörbar. Ich hatte gar nicht mitbekommen, wie trocken mein Hals bis jetzt gewesen war. Während ich einen Schluck trank, wiederholte die alte Frau ihren Satz. „Du hast wirklich einen Wirbel hier rein gebracht. Da macht man seinen täglichen Gang vom langweiligen Seniorentreffen zurück zum Zimmer, und die Ärzte schieben wie von der Tarantel gestochen ein Bett samt dir durch die Gänge und schreien den armen Krankenschwestern Anweisungen ins Ohr. Sehr sympathisch von dir, so reinzuplatzen." Sie verwirrte mich mit ihrem breiten Grinsen, mit dem sie mich anstrahlte und so viel Wärme zeigte. Es war wie aus einem Schneefeld in ein warmes Kaminzimmer zu treten, in dem man unausweichlich schwitzte. Aber mir gefiel es, zu ‚schwitzen' und so konnte ich ein Lächeln nicht unterdrücken. Ein ehrliches Lächeln. Ihrer unermesslichen Wärme wich einem erstaunten Gesicht. „Aber, was hast du denn angestellt?" Und schon wurde ich wieder in die eiskalte Realität gestoßen. "Ein paar Dummheiten, mehr nicht." Mit diesen Worten wand ich der Frau den Rücken zu und betete, dass ich einschlafen würde. Irgendwann tat ich das wahrscheinlich auch, während ich aus dem Fenster starrte und die Schneeflocken, die wie Irre in der Luft tanzten, beobachtete.

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