Verzweiflung

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Wie konnte sie es nur soweit kommen lassen, dass sie nun vor der großen Eichentür des Büros vom Professor für Psychologie stand, der an ihrem College lehrte? Dare empfand es als höchst erniedrigend zugeben zu müssen, dass sie einfach nicht mehr weiter wusste. Ihre Nächte nahm sie in letzter Zeit eher als kräftezehrend wahr als erholsam. Und am nächsten Morgen hatte sie dann immer das Bild ihres Dozenten für ›Paranormale Phänomene‹ vor Augen, denn sie träumte von ihm. Wie er sie berührte. Wie er sie küsste; sie nahm. Immer und immer wieder. Stets war es derselbe Traum. Nie gab es auch nur eine Andeutung von Abweichungen, was die Handlung anging. Selbst ihr Traum-Ich reagierte immer gleich auf seine Berührungen, seine Worte. Er machte sie verrückt, bis sie es kaum noch aushielt und ihn geradezu anbettelte sie endlich zu vögeln. Es war wie eine Art Folter. Die süßeste und köstlichste Verführung, die sie je erleben durfte. Und dennoch wollte sie diese Träume nicht; wollte diese Gedanken nicht ständig in ihrem Kopf haben, wenn sie ihn sah.

Schließlich hatte sich Darina dazu entschieden hierher zu kommen und Professor Flynt um eine Traumdeutung zu bitten. Wenn sie vielleicht dem Grund auf die Schliche kam, würde sie eventuell auch in der Lage sein, das Problem ganz aus der Welt schaffen zu können. So die Theorie. Fragte sich nur, ob die Praxis auch so reibungslos verlaufen würde.
Mit einem nachdrücklichen Klopfen an der Tür kündigte sie sich an und bat still um Eintritt. Keine dreißig Sekunden später wurde die Tür geöffnet und zum Vorschein kam ein relativ kleiner Mann. Aber im Gegensatz zu Dare fühlte sich wahrscheinlich jeder Mann unter eins fünfundachtzig klein. Professor Flynt trug einen dunkelgrauen Anzug, hatte allerdings keine Krawatte umgebunden. Normalerweise liefen auch die Professoren in normaler Arbeitskleidung in den Gängen der Universität herum. Es musste ja nicht immer förmlich zugehen, wenn man stattdessen auch mal der Gemütlichkeit nachgeben durfte.

»Ja, bitte?« Mit den Worten des Dozenten wurde die Ivanova aus ihren Gedanken gerissen.
Sie räusperte sich kurz, um etwas Zeit zu schinden, damit sie sich ihre Worte zurechtlegen konnte. Dann begann sie zu sprechen: »Entschuldigung, dass ich Sie noch aufsuche, obwohl schon längst Vorlesungsschluss ist. Ich hätte nur eine Frage: Haben Sie schon einmal etwas von der Thematik ›Traumdeutung‹ gehört?«
»Natürlich, es ist Hauptbestandteil in den Lehren von Sigmund Freud«, beantwortete er geduldig ihre Frage, wobei er skeptisch zu Darina hinaufblickte.
»Ja, natürlich«, erwiderte die Braunhaarige hastig und beschämt, dass sie trotz reiflicher Überlegung die falschen Worte gewählt hatte.
Eine Augenbraue des Professors hob sich elegant auf seiner Stirn, ehe er fragte: »Miss ...?«
»Oh, mein Name ist Darina Ivanova. Ich studiere hier an der Cornell als Hauptfach Geschichte und Paranormale Phänomene«, unterbrach sie Professor Flynt, der ihr daraufhin nur einen dankbaren Blick zuwarf.
»Miss Ivanova, Sie sind offensichtlich keine Studentin von mir, also wieso suchen Sie mich genau auf?«, führte er seine Frage fort.
»Ich wollte Sie ... Im Grunde genommen wollte ich Sie darum bitten meinen Traum zu deuten. Ich träume seit ungefähr zwei Wochen immer den gleichen Traum. Und damit meine ich, dass es wirklich nie zu irgendwelchen Abweichungen oder gar Veränderungen kommt. Es ist immer der gleiche Traum«, antwortete Dare ehrlich.
Er schien einen Moment überlegen zu müssen, da er seine Stirn in Falten legte und sich seine Augenbrauen nachdenklich zusammenzogen. »Kommen Sie rein. Sie werden wohl verstehen, dass ich mich in dieses Thema erst einmal wieder einlesen muss, bevor wir ins Detail gehen können, aber es kommt mir so vor als belaste sie dieser Aspekt ihres Lebens sehr, Miss Ivanova.«
Darina nahm gern das Angebot des Dozenten an und folgte ihm in sein Büro, welches relativ groß erschien. Er hatte gemütliche Ledersessel vor seinem schwarzen Schreibtisch zu stehen, die anscheinend für Besucher gedacht waren. Zudem schmückten große, dunkle Bücherregale, die mit zahlreicher Literatur beladen waren, die Wände. Dunkle Möbel, weiße Wände – alles schien ein wenig überladen, aber der Professor hatte allem Anschein nach nichts dagegen, fühlte sich in diesem Chaos wohl.

Incubus - VerführungWo Geschichten leben. Entdecke jetzt