Prolog

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Alles begann. Die Weisen der Menschen verspürten das Vibrieren in der Luft, die Tiere fühlten das Beben in der Erde, die Kinder auf den Straßen brachen urplötzlich in Tränen aus, die Pflanzen und Bäume verstümmelten und ihre Blätter verfaulten. Die Luft wurde zum Schneiden dick und die Wachen des königlichen Palastes, die sich bereit zum Kampf gemacht hatten, blickten verängstigt zum Horizont. Ein Tornado wütete auf die Menschenstadt zu. Sein grünes Feuer wälzte die umliegenden Dörfer um und machte sie dem Erdboden gleich, bis der Sturm die Mauern der Stadt erreichte. Auf einmal wurde alles still. Die weinenden Kinder schwiegen, der Wind wurde stumm, die Tiere verkrochen sich, die Angst aller nagte an den Seelen der Menschen. Man hörte nicht einmal die Bedrohung aus dem Inneren des Orkans. Die Hand eines nervösen Soldaten mit gespanntem Bogen zitterte. Der kalte Schweiß rann seine Stirn herab und wie es kommen sollte, ließ er los. Der Pfeil schnitt durch die stickige Luft und kurz bevor er den Tornado erreichte, ging das leichte Holz in grüne Flammen auf. Das Geschoss verschwand in dem grünen Sturm. Es war wie eine Erlösung, doch nichts Gutes kam aus den Flammen. Das Grauen der Menschen lockte sie an, sie rochen ihre Angst und sie liebten ihren Schmerz, denn ihr Blutdurst war unersättlich. Sie waren wiedergekommen, die Drachen jenseits der Menschenlande. Hinter Bordu'um, der letzten Siedlung des Landes Borelm, erstreckte sich weites flaches Land, dann erhoben sich die Hohenberge und dahinter lagen die Moore und die Wälder. Die Menschen nannten dieses Land Dracumier, benannt nach dem Größten und Grauenhaftesten ihrer Art: Dracum, der unerbittliche Gründrachenfürst aus den Langenwälder der Drachenlande. Vor mehr als tausend Jahren waren er und seine Drachen den Menschen das erste Mal erschienen. Damals lag der König der Menschen, Melwert, der Erste seines Geschlechts, im Sterben. Dracum wusste, dass die Macht und das Überleben seines Volkes nun zum Greifen nahe war. Der Geist eines Menschenkönigs speist die Flammen des Drachensteins, ein Smaragd so groß wie eine alte Eiche, aber nur solange der König nicht in die Vergessenheit der Menschen gerät. Doch die Menschen schlossen alle Schriftstücke weg, die von dem Angriff der Drachen handelten. Sie wollten nie wieder an diesen Kampf erinnert werden. Und so kam es, dass selbst die Weisen um die Schlacht vergaßen.

Niemand war vorbereitet auf diesen nächsten Angriff. Die Drachen brachen brüllend aus dem Tornado heraus. Sie pflückten die Soldaten problemlos von ihren Posten, spien heiße, grüne Flammen auf ihre Opfer und ließen Steine auf das gemeine Volk fallen. Die Menschen verteidigten sich und ihre Familien mit Schwertern, Äxten, Spitzhacken und Mistgabeln. Kein Drache fiel ihnen zum Opfer. Viele Menschen starben, zu viele. Dann hörten sie es, das Schnüffeln, Schlürfen und Seufzen des Mächtigsten aller fünf Drachenfürsten. Erst schob sich der grün-geschuppte Kopf aus den Flammen. Auf seinem Kopf thronten riesige Hörner, sein Maul entblößte Zähne so scharf wie Schwerter und so groß wie ein Kind. In den schwarzen Augen lag Begierde, sie zog ihn zum Menschenblut, zum Königsblut. Aus den Flammen schoben sich der mit Zacken versehene Hals, die starken Flügel mit den zwei langen Klauen, dann der lange, gepanzerte Rücken und die vier Beine und als letztes der Schwanz. Dracum entfaltete die mächtigen Schwingen und erhob sich in die Luft. Höher und höher stieg er, bis der Drache die Sonne verdunkelte. Der Wind, den Dracum verursachte, war so gewaltig, dass ein Wachturm krachend in sich zusammenfiel. Einen Moment hing der Körper des Gründrachen in der Luft. Seine Augen schlossen und öffneten sich wieder. Dracum holte tief Luft und das grüne Drachenfeuer loderte in seinem Leib. Dann stürzte er zum Palast herab. Die Leibwachen des Königs schossen vergebens Pfeile auf den großen Drachen ab, doch Dracum verzog nur spöttisch sein stinkendes Maul. Eine grüne Feuerkugel kam aus dem Rachen des Drachenfürsten hervor, tötete die Wachen und schon glitt sein schuppiger Leib in den riesenhaften Thronsaal. Mit der linken Vorderklaue schob er einige Soldaten an die Wand, mit dem Schwanz erschlug er die königlichen Minister. Dann war der Weg frei, der Weg zum König.
„Was willst du, Drache?", brüllte König Meldur ängstlich zu dem Gründrachen herauf.
Dracum roch die Angst des Menschen. Sie belustigte ihn. Er entblößte seine scharfen Zähne als sein Maul sich zu einem spöttischen Lächeln verzog.
„Was ich will?" Dracum richtete sich in der Halle zur vollen Größe auf. „Wie naiv und schwach ihr Menschen doch seid."
Der Drache lachte. Siegesgewiss blickte er auf Meldur herab.
„Deine Ahnen, mein König, haben dich und dein Volk verraten. Sonst wüsstest du, warum ich hier bin." Dracum schaute gespielt mitleidig und lachte dann höhnisch auf. Meldur umklammerte sein Schwert fester.
„Du lügst! Unsere Ahnen standen uns immer zur Seite!", erwiderte er laut.
„Ach ja?", fragte Dracum und schnaubte Meldur abfällig ins Gesicht. „Und wie ihr erklärst du dir, kleiner König, dass ihr nichts von dem wirklichen Tod des ersten Königs über Melarte wisst?"
„Er starb am Alter. Er war ein weiser und mächtiger Herrscher!" Meldur klang ungläubig.
„Oh nein. König Melwert, erster Herrscher von Melarte, starb nicht an Altersschwäche. Nein, mein Herr, ich nahm ihn an mich, brachte ihn zum Drachenstein und dort tötete ich ihn durch mein Feuer. Melwerts Geist weilt jetzt in dem Feuer des Steins. Er war schwach, sein Geist war leicht zu beeinflussen." Dracum bewegte sich langsam auf Meldur zu. „Und nun wirst du ebenso schwach sterben. Aber sei nicht traurig, dein Tod wird von Nutzen sein. Du sicherst das Überleben der Drachen."
Der Gründrachenfürst streckte seine Klauen nach dem zitternden König aus.
„Nein!"
Ein Schrei ertönte und Dracum knurrte. Wer störte ihn dabei, das Leben seiner Drachen zu sichern. Ein mickriger, dünner Mann stellte sich vor den König. Er war der Bruder des Königs und trug den Namen Melreth. Seine Hand hielt eine brennende Klinge umklammert. Doch kein grünes Drachenfeuer flackerte auf, es war ein Feuer wie das eines speienden Vulkans. Dracum schreckte kurz zurück.
„Was fällt dir ein, Wurm?", brüllte er den Störenfried an.
Er kochte vor Wut. Der Drachenfürst bleckte die Zähne.
„Ich werde dir meinen Bruder nicht kampflos überlassen", presste der Mann hervor.
Er sprang auf den Kopf der riesigen Echse und rannte zwischen seinen Augen über die Stirn zu den Hörnern. Dracum fauchte wütend und schüttelte sein mächtiges Haupt. Erschrocken hielt Melreth sich an dem grauen, gedrehten Horn fest.
„Nimm das, Biest!", brüllte Melreth verbissen.
Er holte weit mit seinem brennenden Schwert aus und schlug dem Gründrachen kraftvoll das rechte Horn ab. Dracum heulte auf. Das Menschenfeuer brannte in seiner Wunde. Der Schmerz verlieh Dracum für eine kurze Zeit unermessliche Kraft und er schleuderte den Menschen gegen eine Säule. Leblos blieb der schlaffe Körper des Mannes liegen.
„Entschuldige die Unterbrechung."
Dracum versuchte ein böses Grinsen, doch ihm wurde schwindelig und sein Kopf schmerzte gewaltig. Mit einer schnellen, ungelenken Bewegung griff er nach dem König. Dieser schrie und weinte. Er hatte seinen Bruder sehr geliebt. König Meldur schwanden die Kräfte und er wurde bewusstlos. Der verletzte Drachenfürst stürzte aus dem Saal und erhob sich schwerfällig in die Luft. Dracum stieß ein ohrenbetäubendes Gebrüll aus. Die Drachen ließen von den geschundenen Menschen ab und folgten ihrem Anführer. Zwei Gründrachen halfen ihrem Herren sich in der Luft zu halten. Stille kehrte ein. Sie legte sich wie ein dunkler Schleier über die Stadt, die Dörfer und das ganze Land.
„Der König! Sie haben ihn mit sich genommen!"
Die Nachricht durchbrach das trauernde Schweigen. Es war als würde das Volk für einen Moment vergessen zu Atmen. Klagerufe wurden laut, Verletzte wurden versorgt, Tote wurden betrauert. Doch die Wunden auf den Körpern und den Seelen der Menschen konnte nur die Zeit heilen. Seit diesem Tag brannte um jedes Dorf, jede Stadt und jedes Land das Feuer, welches einst den großen Gründrachenfürsten vertrieb. Dracums Horn wurde ausgehöhlt und die folgenden Könige über das Menschenreich Melarte trugen sein Inneres auf ihren Köpfen und nannten es Die Herrscherkrone. Das Horn jedoch, wurde in die Bucht von Melroth geworfen und nur einer wusste noch um es. Doch nun kommt eine neue Zeit. Eine neue Ära beginnt, sowohl für die Menschen als auch für die Drachen.

Die Seele eines DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt