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Zwei Tage nun waren die beiden Geschwister schon auf ihrem Weg nach Melroth. Wie ihnen in dem Brief des Fremden aufgetragen wurde, reisten sie vom letzten Sonnenstrahl bis zur Dämmerung des nächsten Tages, dicht am Ufer der Bucht entlang. Mit jedem Schritt gelangten sie ihrem Ziel näher. Und nun, am Morgen des dritten Tages richteten Flavor und Malve ihr Lager in einem dunklen Wäldchen auf. Die großen Blätter der grauen Bäume schlossen sich wie ein Dach und ließen keinen Blick auf den hellen Himmel zu.
Schnell waren die Decken auf die Matratze aus Moos ausgebreitet und ein kleines Feuer entfacht. Flavor verschwand zwischen den Bäumen um mehr Holz zu holen. Malve griff in den zerschlissenen Reisebeutel und holte den in Stofffetzen gewickelten Brotlaib hervor, welchen sie bei ihrem überstürzten Aufbrach eingepackt hatte. Jedoch war von dem Gebäck nicht mehr all zu viel übrig. Malve war sich nicht sicher, ob ihr wenig Geld reichte um in der Stadt neues zu kaufen.
Flavor kam mit einem armvoll Brennholz zurück und legte ein paar dünne Äste in die wärmenden Flammen des Feuers.
„Das Brot wird knapp", sagte Malve.
„Morgen früh werden wir Melroth erreichen. Dort werden wir etwas Essbares bekommen, du wirst schon sehen." Flavor legte beruhigend seine Hand auf die seiner Schwester. „Woran denkst du, Malve? Verschweige mir deine Sorgen nicht."
Malve senkte traurig den Blick auf den Waldboden bei ihren Füßen.
„Vaters Tod, an nichts anderes kann ich denken, wenn ich esse, gehe oder schlafe."
„Tröstet es dich, wenn ich dir sage, es gehe ihm besser, dort wo er jetzt verweilt?"
„Ein kleiner Trost, doch ich wüsste ich gerne, wo er jetzt ist. Ich habe Angst vor dem Tod, Flavor, davor, dass das Leid dort größer sein wird als in unserem sterblichen Leben." Malve blickte auf die lodernden Flammen, ihre Gedanken streiften unruhig umher.
„Im Osten liegt ein Land, Epasriad wird es von den Wanderern genannt, denen ich oft zuhörte. Erst erstreckt sich das Grasland von Rosgegobèd, dahinter erhebt sich das Rote Gebirge. Am Horizont leuchten seine Gipfel in einem wundersam roten Licht. Die Zereor selbst sollen in dem Land hinter den Bergen leben. Niemand der lebt hat bisher das Gebirge überqueren können. Man erzählt, die Zereor würden die Seelen der Toten zu sich holen. Sag mir, Schwester, kann an einem Ort an dem die Sonne aufgeht, kein Licht sein? Ich weiß nicht, was sich in diesen Landen befindet, das weiß niemand, aber mein Gefühl sagt mir, dass es nicht schlechter ist als jegliches Leid in dieser Welt."
Die junge Frau sah wieder in die warmen Augen ihres Bruders. Die Angst und Trauer in ihrem Blick war einem Lächeln gewichen und sie flüsterte: „Dort kann nur Licht sein."
Seit ihrem Gespräch war Schweigen eingekehrt. Sie hatten gegessen und lagen nun müde auf dem feuchten Moos. Malve lauschte noch lange den Gesängen der Vögel, während sie in einen ruhigen Schlaf sank.

Als die Kälte der Dämmerung die Geschwister weckte, packten sie eilig ihre Sachen zurück in die Reisetasche und aßen den letzten Rest Brot. Flavor warf einen prüfenden Blick in das Bündel, welches über seiner Schulter hing, um sich zu versichern, dass das Drachenhorn noch immer dort war, wo es sein sollte.
„Lass uns aufbrechen! Wir müssen Melroth noch vor den ersten Sonnenstrahlen erreichen", rief er seiner Schwester zu, die alle Anzeichen ihrer Rast beseitigte.
Die junge Frau holte aus der Tasche ihrer Schürze ein vergilbtes, abgenutztes Pergament. Sorgsam faltete Malve es auseinander. Das Papier zeigte eine Karte der Bucht von Melroth. Wege, Dörfer und Wälder waren darauf eingezeichnet. Malve tippte mit dem Finger auf eine Stelle, die etwa einen nagelbreit des Ufers einnahm.
„Das sind die Schwertfelsen Egendon, aus scharfem Stein bestehen sie. Wir werden sie umgehen müssen."
Flavor nickte, obwohl ihm bei dem Gedanken eine Abkürzung zu umgehen unwohl wurde. Malve ging, mit der Karte in der Hand, voran, dicht gefolgt von ihrem älteren Bruder. Sie verließen den Wald und bogen an seinem Rand in nördliche Richtung ab. Nach kurzer Zeit trafen sie auf den Westweg, dem sie ab dann folgten. Im Dunkeln erkannten sie kaum die mächtigen Felsen, die der Straße immer näher kamen.
Hier her!"
„Hast du etwas gesagt?" Auf Flavors Frage hin, dreht Malve sich zu ihrem Bruder um.
„Nein, wieso fragst du mich das?"
„Ich hörte eine Stimme. Hast du es etwa nicht gehört?", fragte der junge Fischer ungläubig.
„Belaste deine Gedanken nicht damit, sicher war es der Wind."
Flavor versuchte den Worten seiner Schwester glauben zu schenken, doch waren seine Sinne auf das Äußerste geschärft. Er wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Auch Malve war verunsichert, denn nicht viel bereitete ihrem Bruder Sorgen. Rechts von ihnen türmten sich die Schwertfelsen. Grau und kalt erhoben sie sich und griffen wie mit gierigen Fingern zu den Sternen.
Tenan hêraín ár lahas trer. Alfore er lophis, drajamain."
Nun hatte Malve die fremde Stimme ebenfalls gehört. Entsetzt blieb sie stehen und blickte auf den Weg vor sich.
„Ich habe euch erwartet."
Das Wispern ließ die Geschwister zusammen zucken. Hinter ihnen stand eine in braune Tücher gehüllte Gestalt. Flavor zog das alte Schwert seines Vaters hervor und richtete dessen Spitze auf den Fremden. Ein tiefer Schatten verdunkelte dessen Gesicht.
„Du hast also Flaveréds Schwert gefunden. Das wird Frau Megain erfreuen."
Er hob die Hand und strich sich die Kapuze aus dem Gesicht. Hervor kam das Gesicht eines Mannes, der schon viele Winter erlebt haben musste. Seine Augen sprachen von Weisheit und Freundlichkeit. Flavor ließ sein Schwert sinken, da er keine Feindlichkeit dem Mann gegenüber finden konnte.
„Woher kennt Ihr unseren Vater?", fragte Malve vorsichtig.
„Er war ein Freund, mehr wird euch meine Herrin erzählen können, Lophis", erwiderte der Fremde.
„Oh nein, ich heiße Malve, mein Herr, und dies ist mein Bruder Flavor. Wir haben noch einen weiten Weg und müssen uns beeilen."
Der Mann runzelte die Stirn.
„Deswegen bin ich hier. Frau Megain, Herrin von Egendon schickt mich um euch eine Abkürzung zu zeigen." Er streckte ihnen die Hand entgegen, ein Ring zierte diese. „Das Volk der Umérain möchte den Nachfahren Flaveréds einen Dienst erweisen."
Flavor konnte kaum glauben einem der alten Krieger aus den ersten Zeiten gegenüber zu stehen. Die skeptischen Blicke Malves bemerkend, drehte er sich zu seiner Schwester um.
„Ich denke, wir können ihm vertrauen, Malve."
„Nur, wenn ihr mir Euren Namen nennt." Ihre Augen waren voll Misstrauen. Noch nie war sie einem Fremden so abweisend gegenüber gewesen wie diesem Umérain.
„Entschuldigt, ich vergas. Mein Name ist Tènward von Engendon, erster Anführer der Wache."
Malve schwieg kurz und nickte dann, innerlich aufseufzend. Ihr war diese Gegend nicht geheuer. Tènward senkte den Kopf und ging, gefolgt von den Geschwistern, auf einem schmalen, kaum sichtbaren Pfad durch die grauen Felsen.
Die Unbehaglichkeit in Malve war einem Gefühl der Sicherheit gewichen. Fasziniert betrachte sie die Felsen um sie herum, ein ungewöhnliches Strahlen und Murmeln ging von ihnen aus.
„Die Steine, sie reden miteinander", flüsterte sie ihrem Bruder zu, der vor ihr lief.
„Alte Geschichten und Legenden haben sie sich zu erzählen", sagte Tènward über die Schulter. „Von ihnen kann selbst der Weiseste noch lernen."
Verzaubert ließ Malve ihre Fingerspitzen über den glatten Stein streichen, angenehme Wärme und Geborgenheit durchfuhr sie wie eine leichte Sommerbrise. Schritt für Schritt erklommen sie den ansteigenden Pfad, bis ihre Füße sie über eine Hügelkuppe aus Stein trugen. Tènward blieb auf dem Kamm stehen und half den Geschwistern zu sich. Unter ihnen erstreckte sich ein schmales Tal, welches von den steilaufragenden Felsen rundherum vor Wind und Wetter geschützt wurde. Höhlen gruben sich in das Gestein und versteckten dunkel ihr Inneres. Die Senke streckte sich bis zu einem breiten Höhleneingang in dem Höchsten der Felsen. Blumen, Tiere und alte Runen waren aus dem Stein herausgeschlagen und luden in die Schwärze der Grotte ein. Tènward deutete auf den schmalen Weg vor sich.
„Wir müssen hier hinab und dann zur Haupthöhle", erklärte der alte Krieger und suchte mit den Füßen nach Halt auf dem unbefestigten Pfad.
Als er, Flavor und Malve den Abstieg hinter sich ließen, schaute Malve sich vorsichtig um. In den Höhlen brannte kaum noch Licht, doch tiefer im Inneren schimmerte schwach das Feuer einer Fackel. Nicht einmal der Weg zu der großen Höhle war erleuchtet. Tènward blieb unter dem verzierten Steinbogen des Höhleneingangs stehen und sprach:
„Ich bringe Alfore und Lophis."
Nervös und reglos warteten die Ankömmlinge darauf, dass etwas passierte. Leise Stimmen flogen durch die Luft, Malve konnte sie nicht verstehen. Sie sprachen eine fremde Sprache und schienen weit, weit weg. Auf einmal hörte die junge Frau ein Wispern neben ihrem Ohr. Erschrocken blickte sie zur Seite. Weißes Licht schwebte neben ihr. Es hatte die Gestalt einer kleinen Sonne, strahlte jedoch Mondlicht, welches mit zarten Armen über Malves Wange strich. Tausende von ihnen huschten um Flavor und Malve herum, manche langsamer, manche schwirrten zischend durch die kühle Nachtluft.
„Das sind die Seelen unser Verstorbenen, sie schauen in eure Seelen und entscheiden, ob ihr eine Gefahr darstellt", erklärte Tènward und Malve sah das friedliche Lächeln in seinem Gesicht. „Folgt mir!"
Malve und Flavor schritten langsam hinter dem Umérain her in die Dunkelheit. Einige Seelen flogen voran und erleuchteten ihren Weg. Die Seele, die Malve über die Wange gestrichen hatte, flog nun zu Flavor und ihm schien es so, als würde sie ihn liebevoll mustern.
„Tènward, könnt Ihr die Seelen benennen?", fragte er und streckte die Hand nach der Seele aus.
Diese wand ihre silbrig leuchtenden Arme nach ihm aus und Flavor durchstrich ein warmes Gefühl der Geborgenheit.
„Ich nicht, aber Frau Megain wird euch eure Fragen beantworten."
Sie bogen in einen weiteren Gang ab. Am Ende flackerte das Licht einer hellen Fackel.

Die Seele eines DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt