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In ein kleinen Fischerdorf an der Bucht von Melroth, dort wo die Brücke des Meeres Serôhn den schmalen Durchlass in das offene Meer überquert, beginnt eine Geschichte. Eine Geschichte, die niemand in dieser Welt erwartet hätte. Noch genauer beginnt die Geschichte in dem Hause des Zollwärters Flaveréd. Der alte Zöllner hatte seine zwei jungen, erwachsenen Kinder an sein Bett gerufen. Seit dem letzten harten Winter hatte sein Körper immer mehr von dieser Welt Abstand genommen und er wusste, nun würde er endlich nach langer Quälerei erlöst werden.
"Flavor!"
Flaveréds Augen richteten sich auf seinen Sohn. Dieser legte seine rauen, von der harten Arbeit geprägten Hände auf die Schulter seines kranken Vaters und schaute ihn aus klugen, meerblauen Augen an.
"Flavor", röchelte Flaveréd, "Ich vermache dir das Haus und unseren Kahn. Bewahre deinen Besitz gut."
Er wandte sich nun an seine Tochter Malve. Selbst das Bewegen seines Kopfes bereitete ihm Schmerzen und ihm fielen für einen kurzen Augenblick die müden Augen zu. Malve rannen vereinzelte Tränen über das Gesicht und auch Flavor konnte kaum noch an sich halten.
„Meine Tochter", begann Flaveréd wieder zu sprechen,
„Bitte triff eine bessere Wahl als deine Mutter mit mir. Werde glücklich, Kind, versprich mir das."
"Ich verspreche es dir, Vater." Malves Tränen tropften auf das Hemd des Alten und sogen sich in dem Leinenstoff ein. Flaveréd hustete und er wusste, es war das letzte Mal. Sein Atem wurde immer flacher.
"Passt gut auf euch auf."
Der Blick des Fischers wurde starr und seine sonst so warmen und freundlichen Augen blickten verloren in die Ferne. Malve legte bitterlich weinend ihren Kopf auf die stille Brust ihres toten Vaters. Flavor schloss Flaveréd die Augen. Er hob die Hand zum Herz und sprach ein stummes Gebet zu den Moroân, den Höchsten aller Zereor.
Wie es Tradition war, begann nun die Totenwache. So wie das alte Volk der Umérian sprachen, aßen und tranken sie nicht. Eine Nacht lang. Als der Tag wieder erwachte und durch den dichten Nebel Sonnenstrahlen fielen, öffnete Malve ihre trüben Augen. Der Blick aus ihren traurigen, braunen Augen, die sonst warm und sanft waren, strich sanft über die aufgehende Sonne und deren Farbenspiel, welches in Strahlen durch das Fenster auf das Totenbett fiel. Sie war auf der kalten Brust ihres Vaters eingeschlafen und die braunhaarige, junge Frau löste ihre Finger aus dem Hemd des Verstorbenen, welches sie fest in der Faust gehalten hatte. Malve beobachtete ein letztes Mal Flaveréds schlaffe Gezichtszüge, sein graues Haar, den Muttermal an der Schläfe und das seltsame Brandzeichen an seinem Schlüsselbein. Zwei Ranken fanden sich um einen fremdländischen Buchstaben, dessen Bedeutung Flaveréd seinen Kinder nue anvertraut hatte. Malve erinnerte sich an ein altes Lied, Flaveréd hatte es ihnen oft vorgesungen. Er hatte ihnen erzählt, dass die Umérain persönlich es ihm beigebracht hatten.

Fenríol már wèldur,

Grau im Meer,

Langsam vergeht die Ruh,

Fenríol már déer.

Ohn' Erbarm' zieht Schwert,

bis Hêraín blutet und Blut vergießt.

So steigen zwei hinauf,

Iôrid eréorn.


Malve ließ die letzten Töne des Liedes durch ihren Kopf hallen, bis sie sich über dem Wasser der Bucht verloren. Nun regte sich auch Flavor, der seinen Oberkörper auf die Bettkante gelegt hatte und in seiber Hand fest die seines Vaters hielt. Wie es in Melarte üblich war, wurde der Leichnam Flaveréds auf ein Floß gebettet und zu Wasser gelassen. Malve holte einen kleinen Gegenstand aus der Tasche ihrer Schürze und strich nachdenklich mit dem Daumen darüber. Es war ein Ring aus filigranem Silber gearbeitet. Zwei Flügel wanden sich um einen kleinen Smaragd, welcher matt leuchtete. Einst hatte das Schmuckstück Malves und Flavors Mutter gehört, bis sie plötzlich verschwand. Keiner wusste wohin, nur der Ring war von ihr übrig geblieben. Malve bückte sich und wollte ihrem Vater den Ring auf den Finger stecken, doch ihr Bruder hielt sie zurück.
„Behalte ihn. Mutter hätte es so gewollt", sprach Flavor leise.
Malve richtete sich wieder auf und wischte sich einzelne Tränen auf ihren Wangen weg. Sie hatte das Verlangen ihren Vater in due Arme zu schließen, seine tröstenden Worte zu hören, seiner tiefen Stimme zu lauschen und in seine warmen Augen zu blicken. Flavors Gesicht war vor Trauer und Wehmut verzerrt, doch trotzdem stieß er das Floß mit dem Fuß vom Steg ab und es entfernte sich langsam. Beide Geschwister dachten an das Gleiche: Gemeinsame Erlebnisse und daran wie gut es ihrem Vater trotz Armut, hohem Alter und harter Arbeit über all die Jahre hinweg erging. Malve freute sich beinahe für ihren Vater. Er musste sich nicht quälen und sie hatte ihn noch ein letztes Mal sehen dürfen. Ein Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als Flavor ermutigend ihre Hand nahm. Die beiden sahen dem Floß hinterher bis es aus der Bucht heraus getrieben war und am Horizont verschwand.

Die Seele eines DrachenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt