Wenige Schritte noch, dann standen sie in dem größten Raum, den die Geschwister je gesehen hatten. Eine Kuppel aus Stein erhob sich mehrere Meter hoch in die Luft. Die Wände waren schlicht ohne Prunk, doch alte Runen zierten den kahlen Stein und füllten den Raum mit Erinnerungen an die Ersten Zeiten, als Drachen und Menschen noch im Einklang miteinander lebten. In der Mitte des Raums führten drei Stufen zu einem steinernen Thron. Darauf saß eine alte Frau. Sie war schlank und hochgewachsen, einige ihrer grauen Strähne, die in ihrem Zopf keinen Halt hatten, fielen in ihr Gesicht. Kleine Falten bildeten sich an ihren Augen als sie lächelte. Ihr schwarzes, langes Kleid strich lautlos hinter ihr her über den Stein, als sie aufstand und auf die Geschwister zuging.
„Flavor, Malve! Wie schön euch zu sehen!", begrüßte die Fremde die Geschwister.
Flavor machte Anstalten sich höflich zu verbeugen, doch die Frau sprach: „Verbeuge dich nicht vor mir, junger Flavor. Ich sollte es tun."
„Wie meint Ihr das?", fragte Flavor überrascht.
Die Alte nickte in Tènwards Richtung und dieser verließ mit einer kleinen Verbeugung den Saal.
„Ich bin Megain, die Herrin der Schwertfelsen von Engendon." Sie schritt lautlos um die beiden herum. Ihre grünen Augen huschten musternd über sie. „Als ich euch das letzte Mal sah, wart ihr noch kleine Kinder. Ich bedaure Flaverèds Tod, er war ein guter Freund."
Megain blickte traurig in Malves Gesicht.
„Entschuldigt, Herrin, aber Tènward meinte, Ihr könntet uns einige Fragen beantworten."
„Einige bestimmt, doch alles werdet ihr von mir nicht erfahren können. Selbst der Weiseste vermag nicht alles zu wissen", erwiderte sie und bot den Geschwister an sich auf eine Bank an der Rückseite der Höhle zu setzten.
Erst jetzt bemerkte Flavor die Seele, dich sich immer noch an seine Hand klammerte.
„Wie ich sehe, hat sich euch gefunden. Das freut mich", sagte Megain mit einem zärtlichen Blick auf die leuchtende Seele.
Malves fragender Blick, ließ die alte Frau lachen.
„Es war schon immer eine Kunst meinerseits in Rätseln zu sprechen."
Die Seele funkelte und leuchtete nun heller.
„Dies ist die Seele einer Halbdrachin. Sie heiratete einst einen Menschen und zeugte mit ihm zwei Kinder."
„Was ist ein Halbdrache?", fragte Malve erwartungsvoll.
„Die Halbdrachen leben in den Hohenbergen von Dracumier. Sie sind noch älter als das Volk der Umérain. Diese Halbdrachin hieß Naeriel."
Malve und Flavor stockte der Atem.
„Unsere Mutter hieß Naeriel", hauchte Malve und blickte auf die Seele herab.
Diese löste ihre unzähligen Arme von Flavor und schwebte vor ihnen in der Luft. Megain rieb die Hände aneinander und breitete sie dann nach vorne aus. In ihrer Handfläche lag ein silbriger Staub, den sie langsam in die Luft blies. Der Staub umgab die Seele und formte eine geisterhafte Gestalt.
„Mutter", schluchzte Malve, als sie in das Gesicht einer schönen Frau blickte.
Malve stand auf und wollte Naeriels ausgestreckte Hand nehmen, doch das Einzige, was sie zu fassen bekam war Luft. Die Frau lächelte und bewegte ihre Lippen, doch kein Geräusch durchbrach die Stille.
„Ihr tut es leid, euch so früh verlassen zu haben", übersetzte Megain.
Als Naeriel wieder die Lippen bewegte, nahm Flavor Malves Hand und drückte sie fest.
"Sie wird immer bei euch sein. Das ist ein Versprechen."
Naeriels Umrisse verblassten und ihr Blick traf ein letztes Mal liebevoll auf ihre Kinder.
"Nein, bitte bleib", wisperte Malve kaum hörbar.
Leise Tränen rannen über ihre Wangen und tropften auf den grauen Stein. Flavors Augen waren immer noch auf den Punkt gerichtet, wo er die Augen seiner Mutter das erste und das letzte Mal gesehen hatte. Er fühlte sich taub. Ihn fröstelte als er das tiefe Loch in seinem Herzen spürte.
"Kommt mit", flüsterte Megain, die den Schmerz der Geschwister kaum ertragen mochte.
Mühevoll schleppten sich sie zwei hinter der Alten her zum Gang durch den sie gekommen waren. Zu Malves und Flavors Erstaunen rieb Megain wieder ihre Hände aneinander und weiße Flammen loderten an ihrer Hand empor.
"Was ist dies für ein Zauber?", fragte Flavor auch wenn es ihn nur mäßig interessierte.
"Zauber der kühlen Flamme. Diese Kunst wird jedem Herrscher der Umérain hier gelehrt", erklärte sie.
Megain führte sie durch breite, schmale und hohe Gänge und Malve spürte schon die Erschöpfung in ihren müden Gliedern, als sich vor ihnen eine kleinere Höhle öffnete. Weißes Mondlicht fiel durch einen Felsspalt an der Decke der Höhle und warf seine Strahlen auf den moosbedeckten Boden einer Lichtung. Kleine Bäume wuchsen um einen kleinen Teich an dem ein umgestürzter Baumstamm lag. Das Wasser des Teichs glänzte in einem silbrigen Licht und warf Muster an die Höhlendecke. Megain blies die Flammen an ihrer Hand aus und setzte sich auf den alten Stamm. Mit einem Nicken deutete ihnen sich zu setzen.
"Bestimmt habt ihr viele Fragen", meinte sie.
Flavor sah erst seine Schwester, dann wieder die alte Lady an.
"Woher kennt Ihr uns? Und wieso nannte Tènward uns Lophis und Alfore?", fragte er, die trüben Gedanken aus seinem Kopf vertreibend.
"Tenan hêraín ár lahas trer. Alfore er lophis, drajamain. Du trägst das Horn in deinen Händen. Hoffnung und Heilung, die Drachengeburten", meinte Megain auf den Teich blickend.
"War das Drachensprache?"
Jetzt hob die Frau wieder ihren Blick und sah Flavor und Malve an.
"Drakanisch ist nicht nur die Sprache der Drachen. Gelehrte, Könige und selbst die Zereor, unsere Götter, sprechen es", erzählte sie. "Eure Namen sind Teil einer Prophezeiung, die älter ist als der erste Kampf gegen die Drachen aus den fernen Landen. Ihr werdet das Horn des Drachenfürsten in euren Händen tragen. Du, Flavor, lässt uns hoffen und du, Malve, heilst."
"Das beantwortet immer noch nicht, warum Ihr unseren Vater kanntet", sagte Malve.
"Das werdet ihr bald erfahren, doch nun ist noch nicht die Zeit dafür."
Megain glitt hinab auf die Knie und hockte sich neben den stillen Tümpel. Sie legte vorsichtig ihre Hand in das silberne Wasser. Eine helle Lichtkugel, wie eine kleine Sonne, stieg langsam aus dem Wasser empor. Ihr folgte ein winziger Mond. Konzentriert beobachtete Megain den Tanz der Sterne umeinander. Als sie ihre Hand aus dem Wasser zog, verschwanden Sonne und Mond mit einem leichten Windhauch.
"Die Sonne geht bald auf. Ihr müsst los, wenn ihr bei Dämmerung die Stadt erreichen wollt.
Immer noch fasziniert von dem vorherigen Schauspiel, folgten die Geschwister der alten Herrin zu einer Steinwand. Ihre Fingerkuppen fuhren sanft über den kalten Fels. Die Linien, die sie zeichnete, begannen in einem silbernen Licht zu leuchten und langsam ließ sich ein Bild erkennen. Es waren die Umrisse eines mächtigen Drachenkopfes. Megain trat nach der Vollendung ihres Rituals zwei Schritte zuück. Auf einmal ertönte ein Knacken und Krachen in der Wand. Der Kopf teilte sich in zwei Hälften und leise knirschend öffneten sich zwei Torflügel. Dahinter lag die Schwärze eines geheimen Pfades.
"Dieser Gang wurde eigens für den Zereor der Drachen angelegt. Seine Geister wandeln auf diesem Weg, doch euch werden sie nicht bemerken. Die Auserwählten können diese Wege passieren, die anderen werden sterben."
"Ihr kommt nicht mit uns?", fragte Malve entsetzt.
Dieser Weg war ihr nicht geheuer.
"Nein, das werde ich nicht", antwortete sie und schenkte der jungen Frau ein aufmunterndes Lächeln.
"Vertraut auf eure Stärken, euer Weg wird nach euren Kräften greifen, versuchen eure Gedanken zu lesen und eure Seelen in ihre Gänge locken", sprach sie mit eindringlichem Blick.
Flavor griff nach der Hand seiner Schwester und mit der anderen umklammerte er das Horn. Sie wandten sich dem Gang zu. Eins. Zwei. Drei. Vier Schritte machten sie, ehe Malve noch einmal stehen blieb und sich zu Megain umdrehte.
"Danke, für alles", flüsterte sie und Megain erwiderte ein Nicken.
Wieder drehte Malve sich um und blickte nun in die gähnende Dunkelheit. Sie zitterte am ganzen Leib. Dann gingen sie los ins Ungewisse bis das Licht der Höhle hinter ihnen verblasste und der Angst wich.
DU LIEST GERADE
Die Seele eines Drachen
Fantasi"Ich sehe das Horn in deinen Händen. Hoffnung und Heilung, die Drachengeburten. Ihr kennt die Prophezeiung, ihr seid ein Teil davon. Es liegt an euch, ob die Völker der Menschen, Halbdrachen und Elfen untergeht oder nicht. Die Entscheidung nimmt euc...