Berlin VI

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"Ich bring dir schnell die Wärmedecke aus dem Erste-Hilfe Kasten und dann ruf ich einen Krankenwagen.", sagte sie. Es war der zweite Satz, den sie sagte. In ihrem ersten hatte sie ihn nach seinem Namen gefragt. Sie hatte ihn nur einmal ansehen brauchen und verstand. Der Fakt, dass er keine Kleider trug und die Verletzungen sprachen für sich. Die Frau machte etwas, wofür Antonin ihr sehr dankbar war. Sie stellte ihm keine Fragen, schrie nicht rum wie arm er denn dran sei. Nein. Sie saß wortlos neben ihm und hielt nur seine Hand. Und gerade eben wollte sie diese loslassen Blitzschnell krallte sich Antonin an ihrem Arm fest. "NEIN. Lassen sie mich hier nicht allein. BITTE." Sie starrte ihn kurz an und setzte sich dann neben ihn. Antonin hielt immer noch ihren Arm krampfhaft fest und blickte sie verzweifelt an. Er konnte jetzt nicht allein sein. Sonst würde ER wieder auftauchen. Sie setzte sich wieder hin.

Die Frau nahm ein Packung Zigaretten aus ihrer Tasche, steckte sich eine davon in den Mund und zündete sie an. Nachdem sie einen Zug genommen hatte, reichte sie die Zigarette Antonin. "Glaub mir, das hilft" Antonin erwiderte nichts, sondern nahm seine Hand von ihrem Arm und nahm einen Zug. Er spürte wie der Rauch seine Lungen Füllte und stieß den Rauch dann wieder langsam durch den Mund aus. Ihn fror. Er trug nichts außer der Jacke, die ihn die Frau gegeben hatte und seinem Totem. Aber lieber fror er, als dass er jetzt wieder alleine war. "Als ich klein war, hatte ich immer Angst in der Nacht. Ich dachte immer wilde Monster würden durch mein Fenster in mein Zimmer kommen und mich holen. Meine Mutter musste nachts immer das Licht im Gang brennen lassen, damit ich einschlafen konnte. Ich hatte diese Ängste lange. Länger als man sie normal hat. Bis ich irgendwann nachts zu meinem Fenster ging. Ich hab mir die Hosen so richtig voll gemacht, ich sags dir. Ich sah aus dem Fenster. Und da waren keine Monster. Das einzige, was ich sah, war unsere dämliche Hauskatze, die in unserem Hintergarten durch die Büsche irgendeinem imaginärem Geräusch hinterherjagte. All die gruseligen Geräusche nachts, sie kamen nur von meiner Katze. Ab da hatte ich keine Angst mehr. Ich war der Realität entgegengetreten. Ich sah, was ich sah. Ich hörte, was ich hörte. Ich fühlte, was ich fühlte. Ab da war ich Realistin. Ich sah und sehe wie die Dinge sind. Ich hab keine Ahnung, was du genau durchmachen musstest, aber sehe, was du siehst. Du siehst mich. Und nicht diesen Mann. Es ist vorbei und ab jetzt geht es bergauf. Und jetzt höre, wie ich den Krankenwagen anrufe. Es ist nur meine Stimme, nicht seine. Und keine Sorge, ich bleib hier." Sie schaute ihm tief in die Augen und nahm seine Hand. Er betrachtete die Frau zum ersten Mal richtig. Vom Alter her hätte sie seine Mutter sein können. Sie hatte ihr lockiges, schwarzes Haar in einer etwas verwirrenden Frisur gebändigt. Unter einem schwarzen Rock trug sie eine transparente Strumphose, dazu einen weißen Rollkragenpullover und Ballerinas. Sie wirkte ein wenig wie aus einem Tim Burton Film entsprungen, besonders wenn sie einen Zug von ihrer Zigarette nahm. Nur der ganz leichte spanische Akzent passte nicht ganz zu dem Bild. Sie lächelte ihm noch kurz einmal zu und dann wählte sie die 112. Antonin hörte schon gar nicht mehr, was sie sagte. Er dachte sich nur: Ich fühle, was ich fühle. Und ich fühle, wie mir Blut aus meinem Arschloch läuft. Daraufhin begann er wieder zu weinen.

"Herr Seurat, wollen sie das wirklich alles hören?", fragte der Arzt besorgt. Antonin starrte nur an die Decke und nickte. Ihn konnte nichts mehr brechen, denn er war es schon. Die Frau war immer noch bei ihm, obwohl es mittlerweile sieben Uhr morgens war und sie nahm wieder seine Hand. Sie war ihm die letzten Stunden ans Herz gewachsen. Er war sich sogar sicher niemanden in den letzten zwei Jahren gekannt zu haben, der sich so sehr um ihn scherte. Er hatte ständig Angst, er fühlte sich dreckig und er fühlte sich wie tot. Aber ihre Hand machte es erträglicher, machte es überlebbar. Der Arzt holte einen Stapel Papiere hervor. "Nun gut. Ich liefere Ihnen nun einen Bericht Ihrer Lage und welche Maßnahmen wir entsprechend Ihrer Verletzungen vorgesehen haben. Fangen wir bei Ihrer linken Hand an. Wir können noch nicht sagen, ob das Verbrennungen zweiten oder dritten Grades sind. Wenn sie zweiten Grades sind, dann wird vielleicht eine kleine Narbe entstehen, aber es wird relativ schnell wieder verheilen. Sollte es jedoch dritten Grades sein, dann wird die Haut an ihrer Hand nie wieder heilen und wird für immer entstellt bleiben. Das bedeutet auch, dass sie mit dieser Hand dann nichts mehr fühlen können. Außerdem ist ihre Nase gebrochen. Mit einer Operation bringen wir sie wieder in Form. Es wird um die zwei Wochen dauern, bis sie wieder verheilt ist und sie werden bis dahin einen Gips tragen müssen. Wir würden die Operation gerne noch heute machen, wenn das für sie ok ist." Antonin schaute weder dem Arzt noch der Frau in die Augen. Er starrte nur zur Decke und nickte. Der Arzt schrieb sich schnell etwas auf und fuhr dann fort: "Zwei ihrer Rippen sind gebrochen. Hier können wir leider nichts machen, sondern müssen auf die Selbstheilungskräfte Ihres Körpers vertrauen. Die Rippen wachsen von selbst wieder zusammen, aber das kann über einen Monat dauern und kann sehr schmerzhaft werden. In ihrem Körper konnte auch noch eine große Menge an GHB festgestellt werden. Eine..." Der Arzt zögerte kurz. "Eine Vergewaltigungsdroge. Sie können auch nichts dran ändern, indem sie es nicht aussprechen.", beendete Antonin seinen Satz. Antonin war furchtbar wütend. Er kam sich vor wie ein geschrottetes Auto und der Arzt wäre ein Begutachter, der seine Schäden aufzählte und ihm schlussendlich sagen würde, dass er erheblich an Wert verloren habe. Der Arzt legte die Papiere zur Seite und schaute betreten zu Boden. "Es tut mir so leid, Herr Seurat. Kein Mensch sollte so etwas durchmachen müssen. Es wird eine Polizistin kommen. Sie hat eine psychologische Ausbildung und ist auf Missbrauchsfälle spezialisiert. Wenn sie wollen, dass sie die Untersuchungen an ihrem Rektalbereich ausführt, können wir gerne......." "HALTEN SIE DIE KLAPPE." Antonin war außer sich. Als die Ärzte die Verletzungen am Anus untersuchen wollten, hatte er die Augen zugekniffen, sich am Bett festgekrallt und um Hilfe gerufen. Die Ärzte schauten daraufhin alle genauso betreten wie dieser und stellten dann ihre Untersuchungen wieder ein. "Sie können ihre dumme Polizistin für sich behalten! Keiner fasst mich da an und ich will auch mit niemanden reden. Lassen sie mich verdammt nochmal allein." Entschuldigend erhob der Arzt seine Hände und öffnete seinen Mund, um etwas zu sagen, aber die Frau stand auf, legte einen Arm auf seine Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Daraufhin nahm der Arzt seine Papiere und verschwand. Was hatte sie gesagt? Antonin weinte wieder. Er hasste es so schwach zu sein. Er konnte nichts tun, er konnte sich nicht mal mehr alleine erheben. Das einzige, was er noch konnte, war zu weinen.

Wortlos setzte sich die Frau wieder neben ihn und nahm seine Hand. Antonin wollte sie nicht ansehen. Er wollte nicht, dass sie wieder sah wie schwach er war. Er blickte stattdessen auf den winzigen Beistelltisch neben seinem Bett. Dort standen die vier Bilder. Durch den Sturz war das von Eddy und seiner Mutter zerbrochen. Nicht einmal sie spendeten ihm Trost, denn sie erinnerten ihn zu stark an das Geschehene. Aki hatte gewonnen. Antonin würde ihn nie wieder aus seinen Gedanken bringen können. Nie würde er sein grausames Lachen vergessen können. "Du erdrückst meine Hand", bemerkte die Frau lächelnd und geschockt zog Antonin seine Hand zurück. Er hatte nicht wahrgenommen, wie verkrampft er geworden war. Die Frau steckte ihm eine Zigarette in den Mund und wollte sie anzünden, als Antonin sie wieder rausnahm und mit zittriger Stimme erwiderte: "Das ist hier verboten." "In der Berliner U-Bahn ist es auch verboten und trotzdem tu ichs", antwortete sie und lachte. Antonin lächelte mit. Es fühlte sich an, als hätte er es schon verlernt gehabt. Sie erinnerte ihn so stark an seine Mutter. Lächelnd steckte er sich die Zigarette wieder in den Mund und forderte die Frau symbolisch mit gehobenen Augenbrauen dazu auf, sie anzuzünden. Sie tat es. Antonin nahm einen tiefen Zug und schaute ihr in die Augen. "Warum bist du so gut zu mir? Du kennst mich überhaupt gar nicht und stehst mir trotzdem jetzt bei. Warum?", fragte er sie. Sie wirkte verlegen. "Weil ich ein Mensch bin.", antwortete sie und zündete sich auch eine Zigarette an. In ihrer Stimme fand er auch einen Anschein von Schuldbewusstsein. Warum? Antonin starrte wieder zurück an die Decke und dachte darüber nach. Er wurde nicht schlau daraus. "Wie heißen sie eigentlich?", fragte er sie schließlich. "Gentania. Gentania Pérez .", sagte sie und nahm noch einen weiteren tiefen Zug. Ja, sie hieß Gentania Pérez. Und am 23.04.1995 um 5:04 Uhr landete in der mexikanischen Stadt Acapulco eine Fliege der Gattung Calliphora Vicina auf ihrer Schulter.

Uff, dieses Kapitel zu schreiben war echt schwierig. Ich war mir vor allem bei der Charakterisierung von Gentania unsicher und auch welche Geschehnisse ich in den Mittelpunkt rücken sollte. Hatte mir auch noch eine Szene im Krankenwagen überlegt und eine bei den Untersuchungen, aber hab es dann doch gelassen. Wenn ihr findet, dass ich das noch hier einfügen sollte dann schreibt es mir bitte in die Kommentare. Apropo Kommentare, ich würde mich sehr über etwas mehr Feedback oder Kritik freuen, ich würde nämlich gerne wissen, was gut und was verbesserungswürdig ist. Und ach ja wer den letzten Satz dieses Kapitels nicht versteht, sollte noch einmal den Prolog lesen. Alles hängt zusammen. Für Gentania's Rolle finde ich Helena Bonham Carter perfekt. Wer sie in Fight Club gesehen hat, wird wissen was ich mir bei ihrem Charakter gedacht habe. Natürlich ist der Charakter von Gentania viel gemäßigter als der in Fight Club, aber Inspirition hab ich jedenfalls daraus gezogen.:) Bis zum nächsten Kapitel, ciao ciao.


Antonin Seurat - Porträt eines ProstituiertenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt