Die Anschnallzeichen an der Boardleiste leuchten rot auf. Wie ein kleines Kind rutsche ich voller Ungeduld auf meinem Fensterplatz hin und her. Die Kraft der Sonnenstrahlen ist selbst durch die zentimeterdicken Scheiben zu spüren. Ich kneife die Augen zusammen, um nicht geblendet zu werden. Unter uns türmt sich eine kuschelige Wolkenlandschaft.
"We have started our descent and will be landing shortly. Please return to your seats and keep your seatbelts fastend until we have reached our final parking position", ertönt die Lautsprecheransage.
Wir befinden uns im Landeanflug auf den Istanbuler Flughafen. Die riesigen Berge aus wattig weißem Nebel kommen immer näher. Sie umschließen das Flugzeug vollkommen für einen kurzen Moment bevor sie den Blick auf die Hochhäuser der Metropole am Bosporus freigeben. Ich halte den Atem an. Ein Gefühl von "Heimat" durchströmt mich.
"Ladies and Gentleman, welcome to Istanbul Airport. Local time is 10:30am. On behalf of Turkish Airlines and the entire crew I'd like to thank you for joining us on this trip. Have a nice stay and take care." Mit diesen Worten verabschiedet sich der Pilot von uns. Ich nehme meine Handtasche aus der Handgepäck-Ablage und folgen den anderen Passagieren aufgeregt aus dem Bauch des Flugzeugs ins gleißende Sonnenlicht.
Die heiße Luft beim Verlassen der Maschine schlägt mir mit voller Wucht ins Gesicht. Ich strahle. Die Anspannung der letzten Wochen fällt von mir ab: Die monatelange Recherche in der Bibliothek, die Nachtschichten im Lokal, um mir das nötige Taschengeld für die Expedition zu verdienen und nicht zu vergessen, die Intriganz meiner Kommilitonen. Seit mein Doktorvater Professor Theodor Großmann –genannt Theo – mir einen Platz in seinem Expeditionsteam angeboten hat, ist mein Beliebtheitsgrad an der Uni noch weiter gesunken. Falls das überhaupt möglich ist. Archäologie ist ein Männerberuf. Mädchen wühlen nicht im Dreck. Mädchen kriechen nicht in Höhlen. Und wenn Mädchen sich für Steine interessieren, dann bitte nur für Diamanten und Edelsteine. So lautet zumindest die weitverbreitete Meinung unter meinen Studienkollegen.
Auch meine Eltern sind nicht besonders glücklich über meine Berufswahl. Etwas "bodenständiges" haben sie sich für mich gewünscht: Erzieherin zum Beispiel, oder Lehrerin. Hauptsache irgendetwas bei dem man nebenbei gut Kinder großziehen kann.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und schalte es ein. Das Display zeigt zwei neue Mailbox-Nachrichten an. Die erste ist von meiner Mutter, überfürsorglich wie immer: "Maya-Schatz, ich wollte nur fragen, ob du schon gelandet bist. Ruf mich bitte sofort an, damit ich weiß, dass es dir gut geht."
Ich springe weiter zur zweiten Nachricht: "Hi Kleines, hier ist Jonas." Erschrocken unterbreche ich die Ansage. Dann klicke ich erneut auf Abspielen. "Hi Kleines, hier ist Jonas. Ich ... ähm... habe nachgedacht, über das was du gesagt hast, und wollte..." Ohne die Mailboxnachricht bis zu Ende abzuhören, lösche ich sie kurzerhand und stecke mein Handy zurück in die Tasche.
Das Hupen eines Busses reißt mich aus meinen Gedanken. Die anderen Reisenden quetschen sich an mir vorbei und drängen in das Innere des Fahrzeugs. Ein älterer Herr bietet mir mit einer freundlichen Geste einen Sitzplatz an, "That's really not necassary, Sir", lehne ich dankend ab und stelle mich in den überfüllten Gang. Nach den vier Stunden Flug bin ich froh nicht mehr sitzen zu müssen. Ich war noch nie gut darin, lange still zu halten.
Die Fahrt über das Flugfeld ist rasanter als erwartet. Durch die geöffneten Fenster dringt warmer Fahrtwind gemischt mit dem Geruch von Kerosin. Krampfhaft halte ich mich an einer Stange fest und versuche so gut wie möglich, nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Vergeblich. Natürlich trample ich in der ersten Kurve meinem Nachbarn prompt auf die Füße. "Sorry", murmle ich verlegen. Der junge Türke erwidert mein entschuldigendes Lächeln höflich, ist aber sichtlich erleichtert als sich die Türen des Busses öffnen und uns ins klimatisierte Flughafengebäude entlassen.
Als ich in der Gepäckhalle ankomme, kreisen bereits die ersten Koffer über das Band. Ungeduldig halte ich nach meinem Rucksack und meiner Ausrüstung Ausschau. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tippe eine kurze SMS an meine Mutter: Hi Mum, bin gut gelandet. Melde mich später. M.
Obwohl ich die nächsten vier Wochen hier verbringen werde, habe ich nicht viel dabei. Fast schon spartanisch habe ich auf sämtlichen Schnickschnack wie Schminke und Haarspülung verzichtet. Den Großteil meines Gepäcks machen meine Kamera- und Campingausrüstung aus. Ansonsten habe ich nur das Nötigste eingepackt. Zahnbürste, Seife, zwei bequeme Hosen, fünf Tops, zwei dicke Pullover und warme Socken - denn so heiß die Tage auch sind, die Nächte können bitterkalt werden. Ich bin gespannt, ob mein Thermo-Schlafsack hält was die Werbung verspricht. Heute werde ich fürs erste die letzte Nacht in einem richtigen Bett verbringen. Bereits morgen Früh reisen wir mit dem Zug nach Ankara und von dort fahren wir mit einem Jeep weiter ins Taurusgebirge. Wir werden unbekanntes Gebiet durchfahren, das überwiegend unbewohnt ist und über keine befestigte Straßen verfügt.
Bei dem Gedanken an die bevorstehende Expedition spüre ich erneut die freudige Aufregung in mir aufsteigen, die seit Wochen mein ständiger Begleiter ist. Die Suche nach Spuren von altanatolischen Zivilisationen steht im Mittelpunkt unserer Forschungsreise und ist ebenfalls Thema meiner Dissertation. Es ist meine erste Expedition dieser Größenordnung. Noch immer kann ich mein Glück nicht fassen, dabei sein zu dürfen. Bereits seit meiner Kindheit faszinieren mich antike Kulturen und die grundlegenden Fragen der Menschheitsgeschichte. Stundenlang konnte ich mit Jonas über die wildesten Theorien diskutieren. Jonas. Wütend schiebe ich die Gedanken an ihn beiseite. Jonas ist Geschichte.
Nachdem ich mein gesamtes Reisegepäck erhalten habe, marschiere ich bepackt mit Rucksack, Kameratasche, Zelt und Schlafsack in Richtung Ausgang. Schwarz gekleidete Chauffeure warten mit beschriebenen Namenstafeln auf ihre abzuholenden Fahrgäste. Ich blicke mich suchend um. Ein braungebrannter Mann Mitte 30 kommt lächelnd auf mich zu. Das erste was mir auffällt, sind seine strahlend blauen Augen. Er trägt Jeans und ein weißes T-Shirt, und sein Lächeln ist einfach u-m-w-e-r-f-e-n-d. Plötzlich bereue ich, nicht wenigstens Wimperntusche und ein bisschen MakeUp eingesteckt zu haben.
"Maya Brandt?"
Ich nicke und wische mir verlegen meine schwitzigen Hände an der Hose ab, bevor ich seinen kräftigen Händedruck erwidere.
"Hi, ich bin Tom. Dr. Tom Steiner" fügt er grinsend an. "Willkommen im Team, Maya".
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Die Entdeckung des Karatepe
PrzygodoweDie junge Archäologin Maya steht vor dem bisher größten Abenteuer ihres Lebens. Sie darf Professor Theodor Großmann auf eine Expedition in der südöstlichen Türkei begleiten. Als Maya an einer Statue des hethitischen Wettergottes Tarhunna eine erstau...