"Charlie, hast du schon die E-mail an Herrn Kawinsky geschrieben? Wegen der Terminänderung? Außerdem sollte gleich die Frau von der Versicherung anrufen, die die immer so schnell redet, du weißt wen ich meine, ne? Und wenn du gerade dabei bist, frag sie ob unsere Verabredung am Freitag noch steht. Ach ja, meine Hemden müssten auch noch aus der Reinigung geholt werden, wenn du das also bis spätestens 14:00 Uhr machen könntest... und wenn du in die Küche gehst, sei so lieb und bring mir einen Kaffee, ja?"
Mein Chef, der mich zuweilen eher für sein Dienstmädchen hält als seine Sekretärin, würde wohl noch mehr Dinge aufzählen, die ich für ihn erledigen soll, wenn ich nicht schon bei "du weißt, wen ich meine, ne?" von meinem Platz am Fenster aufgestanden, und eifrig nickend in die kleine Küche geschlendert wäre. Eigentlich ist es eher eine Abstellkammer, in der eine Kaffeemaschine und ein Spülbecken stehen, aber wir sind hier großzügig mit Begrifflichkeiten.
Das "Büro" ist eigentlich auch nur eine Zweizimmerwohnung im dritten Stock eines Altbaus. Das klingt für einige vielleicht nach „edlem Wohnen mit Vintageflair", aber lasst euch von den Immobilienmaklern nicht täuschen. Es bedeutet eigentlich, dass das Haus in wahrsten Sinne des Wortes alt ist. Der Putz bröckelt von den schimmelnden Wänden, die Dielen ächzen, das Licht flackert - das volle Programm.
Herr Carlsen, mein Chef, redet immer davon, dass wir in ein neues Gebäude ziehen werden, sobald er einen großen Fall für sich gewinnen kann. Dabei hat er offensichtlich nicht bedacht, dass Klienten mit den potenziell profitablen Fällen eher zu den Kanzleien in der Innenstadt gehen, mit den hohen Glasfenstern und den vertrauenerweckenden, kompetenzausstrahlenden, goldenen Schriftzügen an den Türen. In unsere Anwaltskanzlei verirren sich eher die kleinen Halunken, die sobald sie Fuß in den heruntergekommenen Altbau setzten, ihre Zukunft und Träume zurücklassen.
Ja, das war eine Anspielung darauf, dass Herr Carlsen so gut wie nie einen Fall gewinnt und ich frage mich wirklich, wie ein Mann mit so wenig Rückgrat wie er auf die Idee gekommen ist, Anwalt zu werden.
"Charlie? Kaffee?" ertönt Herr Carlsens Stimme aus dem Nebenzimmer und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich reibe mir meine müden Augen und meinem Mund entfährt ein tiefer Seufzer, der von den knarschenden Dielen erwidert wird, als ich meinen Weg zurück zu meinem Schreibtisch mache. Im Vorbeigehen reiche ich Herr Carlsen seine Tasse, bis ich mich schließlich in meinen gut gepolsterten Drehstuhl fallen lasse und meine Hände auf die Tastatur meines Laptops lege.
Ein letztes Mal atme ich tief durch bis ich anfange, routiniert die Tasten zu drücken. Mit dem Duft von frischem Kaffee in der Luft, erscheint mir der Tag im Büro zumindest um einiges erträglicher.
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Als ich nach einem weiteren eintönigen Tag auf der Arbeit den Hausflur meines Wohnblocks betrete, stolpere ich fast über die unzähligen Umzugskartons, die den Weg zur Treppe versperren. Leicht verwundert über die Tatsache, dass es offensichtlich Menschen gibt, die freiwillig in dieses Haus ziehen, versuche ich mir einen Weg durch das Chaos zu bahnen, wobei ich mir nicht nur einmal meinen kleinen Zeh an den Kanten der Kartons stoße.
Bisher zählten die alte Mutter Brütt im Erdgeschoss und ich zu den einzigen Bewohnern dieses Hauses, doch anscheinend müssen wir uns auf einen neuen Nachbarn einstellen, der schon jetzt nicht gerade den besten Eindruck hinterlässt. Fluchend erreiche ich schließlich meine Wohnungstür. Bevor ich jedoch den Schlüssel im Schloss herumdrehen kann, wird die Tür der Nachbarwohnung mit einem Ruck aufgerissen und ich erstarre in der Bewegung.
Ein Schatten legt sich über meine Gestalt und verschluckt das letzte dämmrige Licht des Tages. Die Temperatur im Flur scheint um einige Grad zu sinken. Schwarze Augen bohren sich durch die Dunkelheit in meine Haut, mein Fleisch, mein Blut bis hinein in meine Seele. Meine Instinkte raten mir so schnell wie möglich in die Sicherheit meiner Wohnung zu flüchten, um dem ungnädigen Blick des Fremden zu entgehen, aber entgegen jeglicher Vernunft bleibe ich wie angewurzelt stehen. Genau wie in diesen Albträumen, in denen man vor Angst wie gelähmt ist und nur fühlt wie die Bedrohung immer näher kommt, bis du ihren Atem in deinem Nacken spürst und du darauf hoffst endlich aufzuwachen.
Aber ich wache nicht auf. Der Fremde hält mich mit seinen kalten Augen in einem Bann gefangen und ich spüre wie mein Mund immer trockener wird, und meine Zunge immer schwerer. Sie beginnt sich wie ein Fremdkörper in meinem Mund anzufühlen und ich kann mich mit bestem Willen nicht daran erinnern, wie man sie benutzt.
Nach einem unendlich langem Moment, in dem ich seinem erbarmungslosem Blick standhalten musste, der jede Zelle meines Körpers durchdrang, öffnet er endlich seinen Mund.
"Bist du Charlie?"
Nur diese drei Worte sind genug, um mich in eine innerliche Panik zu versetzen. Woher. kennt. er. meinen. Namen?! Warum starrt er mich an wie ein wildes Tier seine Beute und wer zum Teufel ist das verdammt nochmal?!
Wer jetzt glaubt meine Reaktion wäre etwas übertrieben, der wurde offensichtlich noch nie abends in einem dunklen Hausflur von einem wildfremden, 1,90 Meter großen BÄREN in schwarzer Jeans, und passender Lederjacke mit eindringlichen Blicken penetriert, dass sich einem die Nackenhaare aufstellen und das Blut in den Adern gefriert.
Mein Mund ist noch immer zu trocken, um volle Sätze zu artikulieren, aber ich sehe am Zucken seines linken Auges, dass er durch mein langes Schweigen langsam ungeduldig wird. Also krächze ich unter großer Anstrengung ein leises "ja".
Er schnalzt genervt mit der Zunge und schüttelt mit deutlichem Missfallen den Kopf. Ohne ein weiteres Wort an mich zu richten, schließt er seine Wohnungstür hinter sich und auch ich betrete verdutzt und leicht verstört meine Wohnung. Durch die Wand kann man seine raue Stimme knurren hören: "Das Mädchen ist komplett nutzlos."
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Ein Hauch Paranoia
ChickLitOkay ganz ruhig, nur weil er aussieht wie ein Mörder muss er ja nicht gleich einer sein. "Ivan, ich meine es Ernst. Entweder du bewegst deinen fetten Arsch hierher oder mit dir passiert dasselbe wie mit Karl. Willst du das, Ivan? Willst du genauso...