Kapitel 2

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Seine letzten Worte gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Wie hat er das gemeint? Wofür bin ich nutzlos?

Bin ich etwa nicht dafür geeignet, um für ihn Drogen an ahnungslose Jugendliche zu verticken? Ist mein Gesicht etwa nicht vertrauenerweckend genug? Falls es ihm nicht aufgefallen ist, habe ich braune Augen, und einer Statistik zufolge vertraut man braunäugigen Menschen schneller als anderen. Nur mal so.

Oder wollte er, dass ich eine neue Prostituierte in seinem Edeletablissement werde? Bin ich ihm dafür nicht heiß genug, oder was? Sorry, aber ich finde, dass ich eine besondere Ausstrahlung besitze, die Männer durchaus- okay das ist Unsinn. Ich kann nicht glauben, dass ich gerade ernsthaft Gründe aufgezählt habe, warum ich eine gute Nutte wäre.

Ich gebe zu, dass meine Fantasie manchmal etwas mit mir durchgeht, aber je länger ich mir über den Fremden den Kopf zerbreche, desto sicherer bin ich mir, dass er nichts Gutes zu bedeuten hat. So wie er aussieht, kann er genauso gut in den Menschenhandel involviert sein. Vielleicht verkauft er kleine Mädchen an reiche Herren... Auf jeden Fall geht so ein Mensch keiner ehrlichen Arbeit nach. Ich lebe schon lange genug in dieser Stadt, um das zu wissen... Moment mal. Menschenhandel? Wenn er wirklich in dieser "Branche" tätig ist und er mich als potenzielle Ware nun als "nutzlos" abgestempelt hat, bin ich dann in Sicherheit? Oder bedeutet es vielmehr, dass er keine Verwendung für mich hat und mich demnach jetzt loswerden will? "Loswerden" a.k.a. UMBRINGEN?!

Okay ganz ruhig, nur weil er aussieht wie ein Mörder muss er ja nicht gleich einer sein.

"Ivan, ich meine es Ernst. Entweder du bewegst deinen fetten Arsch hierher oder mit dir passiert dasselbe wie mit Karl. Willst du das, Ivan? Willst du genauso enden wie Karl?...Ja, das habe ich mir gedacht. Beeil dich."

Durch die dünnen Wände kann man jedes Wort verstehen, dass mein Nachbar mit seiner tiefen Stimme ins Telefon spricht und mir wird eines klar: Er IST ein Mörder und er WIRD mich umbringen. Oh mein Gott. Ich will nicht wie Karl enden.

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Die nächsten Tage versuche ich meinem reizenden neuen Nachbarn aus dem Weg zu gehen. Ich halte mich also gewissenhaft an die uralte Weisheit: aus den Augen aus dem Sinn. Vielleicht vergisst er ja, dass ich existiere, wenn er mich nicht sieht, richtig? Das scheint ganz gut zu klappen, denn bis jetzt, zwei Tage nach dem Vorfall im Hausflur, sind wir nicht aufeinander getroffen.

Ich bin mir auch immer noch nicht sicher, was er eigentlich genau gegen mich hat, aber gefährliche Menschen sollte man besser nicht mit Fragen provozieren. Ich behaupte mal ich kenne mich da gut aus. Man kriegt ja ganz schön viel mit, wenn man für einen Anwalt arbeitet, da trifft man schon Zwielichtige gestalten. Ich würde ihn zur Kategorie: Serienmörder mit impulsiven Aggressionsproblem zuordnen. Das hab ich gleich in seinen Augen gesehen.

Außerdem kennt er meinen Namen, also ist er vielleicht auch noch eine Art Stalker, der extra in die Wohnung neben mich gezogen ist, damit er seinem Opfer näher ist.

Was für ein kranker Typ.

Aber wie gesagt: solange wir uns nicht sehen, hat er keine Chance mich zu den anderen Leichen in seine Kühltruhe zu legen.

"Ist alles klar bei dir? Du wirkst etwas angespannt.", bemerkt Herr Carlsen und runzelt seine ohnehin schon runzelige Stirn. Er guckt mich über den Haufen von Akten aufmerksam an. "Ist es die Verdauung oder Männerprobleme? Lass dir bloß nichts von denen gefallen, die treiben doch alle nur Schabernack mit dir. Ich hab dir schon tausend Mal gesagt, dass Olli der richtige für dich ist. Er ist so ein lieber und er redet wirklich ständig von dir..."

Ein Hauch ParanoiaWo Geschichten leben. Entdecke jetzt