Kapitel 5

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Nach einiger Zeit, es mögen Minuten oder Stunden gewesen sein (Wer weiß das schon genau. Wenn man seinem Ende entgegen geht, verliert das Konzept Zeit vollkommen seine Bedeutung), setzt er mich endlich wieder auf den Boden ab. Wir befinden uns auf einem Hinterhof, auf dem viele alte, rostige Autos stehen. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen, was wahrscheinlich mit der fortgeschritten Tageszeit zu tun hat. Ein perfekter Ort zum sterben.

Mir bleibt nicht viel Zeit meine Umgebung genauer zu betrachten, denn er packt meine Hand und schleift mich hinter sich her, durch eine Tür, von der der rote Lack abblättert, hinein in das Gebäude. Es riecht penetrant nach Benzin und ich halte mir meine freie Hand vor die Nase. Wie traurig, das dieser Geruch das letzte ist, was ich je wieder auf Erden riechen werde. 

Er sieht mich jetzt etwas unentschlossen an und fährt sich mit der freien Hand durch sein Haar, so als wüsste er nicht wie er weiter mit mir verfahren soll. Vielleicht hat er sich noch nicht entschieden, ob er mich erwürgen oder erstechen soll.

Schließlich entfährt ihm ein langer Seufzer. 

„Das ist meine Werkstatt."

 „Was?"

„Meine Werkstatt. Ich weiß nicht, was du dir zusammengereimt hast, aber das hier ist meine Autowerkstatt."

„Du meinst dein Drogenlabor."

„Nein, ich meine Werkstatt. Ich repariere hier Autos und verkaufe Ersatzteile. Ivan ist mein Partner." Er deutete auf ein Schild an der hinteren Wand, auf dem mit roter Schrift „Eiriks & Ivans Werkstatt" steht. 

Verwundert (nicht nur über die fehlende Kreativität dieses Namens) schaue ich mich etwas genauer um. An der Wand zu meiner Rechten hängen mindestens zwanzig Bilder, auf jedem davon ist ein lächelnder Ivan abgebildet, unter der Überschrift: „Mitarbeiter des Monats". Daneben klebte ein Zeitungsartikel, der von der Neueröffnung des Ladens vor drei Jahren spricht. In der Mitte des Raums steht ein Auto mit geöffneter Motorhaube. Alles weist darauf hin, dass das hier tatsächlich Eiriks und Ivans Werkstatt ist. 

Mir stockt der Atem.

Eine schreckliche Ahnung droht mich zu übermannen. 

Die Ahnung, dass ich wochenlange einem unschuldigen Mann hinterher spioniert habe, nur weil meine Fantasie mit mir durchgegangen ist. Dass ich mich wie eine hysterische, paranoide Wahnsinnige verhalten habe. 

Ich versuche diesen Gedanken schnell wieder zu verdrängen. Und stürze mich stattdessen auf die erdrückende Beweislast, die ich gegen ihn gesammelt habe, um nicht völlig vor Scham und Entsetzen über mein eigenes Verhalten im Boden zu versinken.

„A- Aber das Mädchen. Die Prostituierte. Wie erklärst du das?"

„Das einzige Mädchen, das ich in letzter Zeit getroffen habe, war meine Schwester." Er zückt sein Smartphone aus der Tasche und zeigt mir ein Familienfoto, auf dem seine Schwester, seine Eltern und Großeltern abgebildet sind. Das Foto ist vielleicht schon einige Jahre alt, aber man kann das Mädchen eindeutig darauf erkennen. Außerdem ist die Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern nicht zu leugnen. Die selben großen Augen, die selbe Spitze Nase, die selben vollen Lippen. Wie konnte mir das nur entgehen?

Ich schlucke einmal trocken.

„Und wer ist Karl?"

„Ich dachte du weißt, was ich ihm angetan habe, weil du alles weißt?" 

Sein neckender Tonfall erscheint mir völlig fehl am Platz. Merkt er denn nicht, dass ich gerade in einer existenziellen Krise stecke? Als er keine Reaktion von mir bekommt, setzt er seine Erklärung nach einem kurzen Räuspern fort: 

„Er ist der nutzlose Freund meiner Schwester. Er hat für mich gearbeitet bis er angefangen hat Geld in seine eigene Tasche zu stecken. Daraufhin habe ich mich revanchiert und ihn gefeuert. Er ist übrigens derjenige, den wir neulich getroffen habe."

Ich kann mir ganz gut vorstellen, was er mit „revanchieren" meint, schließlich war ich dabei als er dem Typen die Visage neu arrangiert hat. Immerhin lag ich mit meiner Vermutung, dass er Aggressionsprobleme hat, nicht völlig daneben. 

„Es tut mir übrigens echt leid, dass du das mit ansehen musstest. Ich habe mich manchmal nicht recht unter Kontrolle, aber ich arbeite daran." Er lächelt mich schief an und spielt nervös mit seinen Fingern. 

„Aber glaub mir, er hat es verdient." 

Die letzten Worte kann ich nicht recht verstehen, weil er sie leise vor sich hin grummelt, aber seine Entschuldigung klingt aufrichtig, und die Tatsache, dass er dabei wie ein im Regen ausgesetzter Welpe aussieht, bringt mich vollends zu der Überzeugung, dass ich ihn vollkommen falsch eingeschätzt habe. Er ist ein Hündchen und kein wilder Bär. Zumindest meistens.

Ich kam mir in meinem Leben noch nie blöder vor. Ich habe einen unschuldigen Typen wie eine wahnsinnige gestalked, und zu Unrecht beschuldigt ein Mörder oder schlimmeres zu sein. Zu allem Überfluss habe ich seine Schwester eine Nutte genannt. Oh Gott. 

„Noch eine letzte Frage," entfährt es mir kleinlaut. „Woher kanntest du meinen Namen, als wir uns das erste Mal gesehen haben?"

„Ich habe mit unserer Nachbarin gesprochen. Sie hat mir gesagt, dass hier ein gewisser Charlie leben würde, der mir beim Einzug helfen könnte. Da war mir aber noch nicht klar, dass Charlie ein 1,60 Meter großes Mädchen ist, dass ich wohl kaum darum bitten konnte, mir zu helfen, ein Sofa in den ersten Stock zu tragen."

Das erklärt, warum er mich „nutzlos" genannt hat. Obwohl das immer noch ziemlich gemein ist, und genau genommen sexistisch. (Die Linie zwischen einem Gentleman und einem Sexisten ist bekanntlich schmal.) Und nur mal so nebenbei: ich bin 1,65 Meter.

Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, was ich noch sagen soll. Ich habe mich wie eine Idiotin verhalten und einen fremden Mann zum Mittelpunkt meines Dramas gemacht. Am liebsten würde ich mich in Luft auflösen und aufhören zu existieren. Es wäre auch wundervoll, wenn sich direkt vor meinen Füßen ein Abgrund auftun würde, in den ich hineinspringen könnte, denn das Schweigen zwischen uns wird immer länger. Vielleicht kann ich ihn überzeugen mich doch noch umzubringen, denn diese ganze Situation wird von Sekunde zu Sekunde unangenehmer. Als ich es schließlich nicht mehr ertrage, presse ich in einem Atemzug eine Entschuldigung hervor: 

„EntschuldigungdassichdichfüreinenschizophrenenMenschenhändler-Serienmörder-Terroristen-Stalkergehaltenhabe." Das muss reichen. Für mehr fehlt mir der Atem.

Er schüttelt leise lachend den Kopf: „Also genug Vorstellungskraft hast du, dass muss man dir lassen."

Na toll jetzt macht er sich über mich lustig, aber ich habe es wahrscheinlich nicht anders verdient.



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