Letztes Jahr in der Schule hatten wir über unsere Identität geredet. Was uns ausmacht, wer wir sind und warum wir so sind. Während dieser Zeit ist mir zum ersten Mal aufgefallen, wie wenig ich mich eigentlich selbst kenne. Und das klingt dumm, ich meine, natürlich weiß ich wer ich bin. Trotzdem gibt es einen Unterschied zwischen dem einfachen Steckbriefwissen und dem wahren Ich. Ich heiße Adina Winkens, bin im November achtzehn geworden und lebe seit einem Tag bei meinem Vater, mit dem ich drei Jahre lang keinen Kontakt gehabt habe. Ich bin Einzelkind. Zumindest war ich das, bis ich gestern von meinem Stiefbruder erfuhren habe.
Meine besten Freunde heißen Philipp und Jasmin und die beiden sind ein Paar. Also war ich mein lebenlang praktisch das fünfte Rad am Wagen. Außer einer Schildkröte, die ich mit sechs Jahren für ein halbes Jahr hatte, besaß ich auch nie Haustiere. Ich bin eine Niete in Mathe und beschäftige mich in meiner Freizeit am liebsten damit nichts zu tun. Hört sich dumm an, aber meine Hobbys hatte ich im Alter von fünfzehn aufgeben, weil ich wegen der Schule kaum noch Zeit dafür hatte. Alles, was mir jemals Spaß gemacht hatte, als ich jünger war, habe ich verloren. Die einzige Leidenschaft, die ich seit klein auf habe, ist das Lesen und Schreiben. Schon als Kind hatte ich meiner Fantasie immer freien Lauf gelassen und täglich Geschichten geschrieben. Deshalb möchte ich auch unbedingt Journalismus oder Sprachen studieren.
Und tja, das bin ich. Müsste ich mich mit wenigen Worten beschreiben, wären diese wahrscheinlich langweilig, durchschnittlich und uninteressant. Hört sich ziemlich deprimierend an, oder? Ich glaube auch, dass mein Drang aus meiner Heimatstadt herauszukommen viel damit zu tun hat. Selbstfindung und so. Ob das hier allerdings funktionieren wird, bezweifle ich.
Ich öffne die Augen und verdränge die Gedanken. Es ist zu früh für tiefgründige innere Monologe, Adina, sage ich mir selbst und greife nach meinem Handy auf dem Nachttisch.
10.30 Uhr. Ich lasse meinen Kopf zurück auf das Kissen fallen, zu faul mich zu bewegen. Wie jeden morgen rechne ich, wie lange ich geschlafen habe und als ich auf nur knapp sechs Stunden komme, seufze ich genervt. Ich werde heute unbrauchbar sein.
In diesem Moment klopft es an meiner Zimmertür. Ich setze mich aufrecht hin und fahre mir durch die Haare.
"Ja?", rufe ich.
Die Tür öffnet sich und ein zerknirscht aussehender Ben kommt herein. Ich lache bei seinem Anblick.
"Wie schlimm ist dein Kater?", frage ich grinsend, bevor er zu Wort kommt.
"Auf einer Skala von eins bis zehn? Zwölf." Er seufzt theatralisch und setzt sich auf das Ende meines Bettes. "Sorry, mein Kopf brummt immer noch." Er wirft mir einen unsicheren Blick zu. "Bist du sauer?"
"Was? Nein, du warst... unterhaltsam."
"Oh Gott, ich will es gar nicht wissen." Er lacht laut und fasst sich direkt danach an den Kopf. "Autsch!"
"Du solltest etwas essen und trinken. Das hilft." Ich tätschle ihm unbeholfen die Schulter.
"Ich weiß, aber allein beim Gedanke daran wird mir schlecht." Er lächelt mich gequält an. "Wie sind wir eigentlich genau nachhause gekommen?"
"Aiden hat uns gefahren." Ich kann meine Meinung über ihn nicht ganz verstecken.
"Dachte ich mir." Er nickt, dann guckt er mich ernst an. "Ich hoffe, er hat sich von seiner annähernd guten Seite gezeigt?"
Ich rolle mit den Augen. "Darf ich dich was fragen?"
"Solange es nichts schweres ist. Meine Kopfschmerzen lassen mich auch nach dem zweiten Aspirin nicht nachdenken."
Ich lache auf. "Warum bist du mit Aiden befreundet? Ich meine, ihr seid so -"
"Unterschiedlich?", unterbricht er mich und lächelt leicht. Ich nicke.
"Er ist der beste Freund, den ich je hatte. Auch wenn du dir das wahrscheinlich nicht so gut vorstellen kannst, er ist ein echt guter Mensch. Er lässt nur nicht jeden diese Seite sehen. Ich weiß, dass er immer hinter mir steht, genau wie ich hinter ihm. Und das obwohl wir erst seit drei Jahren Freunde sind."
Ben meint es wirklich ernst, aber ich finde es trotzdem schwer, mir eine gute Seite in Aiden vorzustellen. Ich nicke langsam, weil ich nicht genau weiß, was ich sagen soll.
"Naja." Ben zuckt die Achseln. "Meine Mutter hat unten Frühstück gemacht. Hast du Hunger?"
Genau in diesem Moment knurrt mein Magen und ich lache. "Essen hört sich gut an."
Ich folge ihm nach unten in die Küche. Anne und mein Vater sitzen am Küchentisch und lesen Zeitung.
"Hey! Gut geschlafen?" Anne strahlt mich an.
"Ja, danke." Ich lächle zurück und versuche dem Blick meines Vaters auszuweichen. Ich bin nicht in der Stimmung mich mit ihm zu unterhalten.
"Ben zeig Adina wo Teller und Besteck sind, damit sie sich ein bisschen auskennt." Sie lächelt mich an. "Ich habe Rührei gemacht und wir haben frische Brötchen geholt." Sie zeigt auf den Tisch, der beladen ist mit verschiedenen Dingen. Ich glaube ich könnte ein English Breakfast und gleichzeitig russisch essen bei dieser Auswahl. Anne scheint meinen Blick zu bemerken. "Wir wussten nicht genau was du magst."
Mein Blick fällt auf Dad und er guckt weg.
"Nein, das ist perfekt. Danke." Ich nicke, um meine Worte zu bestätigen.
Ich setze mich auf den Stuhl neben meinem Vater und Ben zeigt mir, wo ich Besteck, Teller, Gläser und so ziemlich alles mögliche finde. Während wir essen, sieht Anne uns interessiert an. "Was habt ihr heute vor?"
Ich ergreife das Wort. "Eigentlich habe ich darüber nachgedacht, mich heute nach einem Job zu erkundigen."
Anne wirft meinem Dad einen Blick zu. "Oh, das klingt schön. Aber warum brauchst du einen Job?"
"Naja, ich bin jetzt fast ein Jahr hier und ich würde gerne etwas zu tun haben." Das klingt irgendwie falsch. "Also, ich finde ich sollte mir etwas ansparen," verbessere ich mich.
"Finde ich gut," meldet sich da mein Vater zu Wort. Ich nicke und betrachte interessiert meinen Teller, um ihn nicht angucken zu müssen.
"Wenn Ben nicht an der Uni ist, arbeitet er in einer Firma, falls dich so etwas interessiert," meint Anne, bevor sie von ihrem Brötchen abbeißt.
"Was studierst du eigentlich?" Ich sehe Ben fragend an.
"Sport und englisch auf Lehramt." Er grinst. Ich muss ein Lachen unterdrücken. Genau so etwas hatte ich mir auch vorgestellt. "Cool."
Ich wende mich an Anne. "Irgendwie dachte ich daran in einem Restaurant zu arbeiten, als Kellnerin. Der Verdienst ist gar nicht so schlecht, wenn man Glück hat und ich habe das schon mal gemacht." Anne nickt eifrig. "Ich kann mich auch mal erkundigen." Ich nicke dankbar.
"Schreibst du eigentlich noch?", fragt mein Vater überraschend. Ich nicke knapp. "Ja."
Meine Antwort scheint ihn zu freuen.
Für eine Weile herrscht Schweigen am Tisch. Als Ben vom Tisch aufsteht, wendet er sich an mich. "Wenn du willst, kann ich dich mit in die Stadt nehmen später. Ich muss ein paar Besorgungen machen und treffe mich mit Aiden. Du kannst dich ja mal in Restaurants erkundigen?" Er sieht mich fragend an.
"Das klingt gut." Ich lächle ihn dankbar an. Ich muss zugeben, dass ich ihn mit jeder Sekunde mehr mag. Noch vor einem Tag, war ich kurz davor wegen Anne und Ben nachhause zu fahren. Aus Solidarität zu Mum. Mum. Ich hatte ihr überhaupt nicht von Ben und Anne erzählt. Innerlich erinnerte ich mich daran, sie später anzurufen.
"Passt es dir wenn wir in zwei Stunden fahren?", fragt Ben, während er sein Geschirr aufräumt.
Ich nicke und stehe ebenfalls auf.
Ich hoffe nur, dass ich Aiden heute aus dem Weg gehen kann.
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Limerence
RomanceAdina und Aiden. Feuer und Wasser. Gut und Böse. >>So etwas wie Liebe gibt es nicht, Adina. Es ist nichts weiter als ein Märchen, an das sich verzweifelte Menschen klammern.<< Als Adina zu ihrem Vater zieht lernt sie Aiden kennen. Den tattowierten...