Sie erinnerte sich daran, wie ihre Eltern damals entführt worden waren. Das Gesicht einer der Männer sah dem von Marie wirklich sehr ähnlich. "Könnte es sein, dass er wirklich nur ein Tierarzt war" fragte sich Lia. Sie ließ das ganze Szenario noch einmal Revue passieren und kam zu dem Entschluss, dass sie vielleicht überreagiert hatte. Es hatte wahrscheinlich daran gelegen, dass sie noch sehr jung gewesen war und die Trennung von ihren Eltern damals noch ungewohnt gewesen war und sie deshalb in Panik geraten war. Doch wieso hatte man dann nicht nach ihr gesucht, fragte sie sich. Oder hatte man doch nach ihr gesucht?! Lag es daran, dass sich Lia versteckt gehalten hatte und stets geflüchtet war, sobald ihr jemand zu Nahe kam? Lia wurde von all den Fragen in ihrem Kopf überwältigt. Sie wurde jedoch von einer kalten Schnauze, die sich von der Seite an ihren Brustkorb drückte wieder aus den Gedanken gerissen. Murphy hechelte und forderte mit einem leisen Bellen Lia zum Spielen auf. Sie ging auf dieses Angebot ein und stieß ihn mit ihrer Schnauze zurück. Die beiden begannen zu toben. Marie und Malik mussten lächeln, als sie sahen, wie viel Spaß ihre Hunde gemeinsam hatten. Sie beobachteten die beiden beim Spielen, bis sie das sich nähernde Geräusch von Sirenen hörten. "Ich glaube, da wird gleich jemand abgeholt" meinte Marie scherzhaft. Malik lachte und bestätigte mit einem leichten Nicken ihre Vermutung. Ein Rettungswagen fuhr auf dem breiteren der beiden Wege an sie heran. Zwei Sanitäter stiegen aus. Einer von ihnen holte die Rettungsbahre aus dem Wagen, während der andere mit seiner Erste Hilfe Ausrüstung zu Malik ging. Nachdem Malik erklärt hatte, was passiert war, legten sie ihn auf die Bahre und wollten ihn in das Krankenhaus mitnehmen. "Warten Sie!" unterbrach er die beiden Sanitäter. "Kann mein Hund mitkommen?" wollte er wissen. "Das können wir aus Sicherheitsgründen nicht machen. Können Sie nicht auf die Hunde aufpassen?" fragte einer der beiden und deutete zu Marie. "Klar! Mach ich gerne." antwortete sie fröhlich und holte aus ihrer Handtasche, die noch am Boden liegen geblieben war, ein kleines Stück Papier und einen Stift hervor. Sie kritzelte etwas auf das Papier, überreichte es an Malik und schlug vor:"Ruf mich an, wenn es dir wieder besser geht und dann bring ich sie dir wieder vorbei." Malik konnte nicht darauf antworten, weil die Sanitäter ihn in den Krankenwagen eingeladen hatten und die Türen des Wagens schlossen. Marie winkte zum Abschied und der Wagen fuhr davon. "Na zum Glück war ihre Freundin dabei. Ansonsten hätten wir Sie nie gefunden" meinte der Sanitäter, der bei ihm hinten geblieben war. "Das war nicht meine Freundin" antwortete er. Plötzlich riss er die Augen auf. "Annie!" rief er aus dem nichts. "Ich muss ihr Bescheid sagen, was passiert ist!" entschloss er. Er wühlte in seiner Hosentasche nach seinem Handy, doch der Sanitäter hielt ihn davon ab. "Das hat Zeit. Außerdem machen Sie sie nur nervös, wenn Sie ihr sagen, dass sie sich verletzt haben, obwohl wir noch nicht einmal wissen, wie schlimm es wirklich ist." Malik wurde wieder ruhiger. "Sie haben vielleicht Recht." antwortete er und entspannte sich wieder ein wenig. "Wie ist das jetzt genau gewesen? Ein Fahrradfahrer ist in Sie hineingefahren?" Malik schilderte genau, woran er sich erinnern konnte. Danach erreichten sie das Krankenhaus. Malik hatte Glück und musste nicht lange auf seine Untersuchungen warten. Abgesehen von den Wunden in seinem Gesicht stellte der Arzt auch noch eine Prellung an der Hüfte fest. "Das ist nichts schlimmes. Sie sollten sich in nächster Zeit ein wenig ausruhen und die Hüfte für die nächsten 3 Tage nicht all zu stark belasten. Dann sehen wir uns wieder und dann schaue ich mir an, wie die Heilung verläuft." meinte der Arzt, gab Malik ein paar Zettel in die Hand und führte ihn wieder in den Warteraum hinaus. "Haben Sie jemanden, der Sie abholen kann, oder müssen Sie hier übernachten?" fragte er nachdem er Malik im Warteraum hingesetzt hatte. "Ich werde abgeholt, danke!" entgegnete Malik. Danach nahm er sein Handy aus der Tasche und rief Annette an. Er wartete. Doch sie hob nicht ab. Er versuchte es erneut. Und wieder ging Annette nicht an ihr Handy. Malik wurde nervös. Er wählte noch einmal ihre Nummer und rief sie an. Keine Reaktion. Diesmal sprach er Annette aber auf die Mailbox. Er erzählte ihr, was passiert war und dass er versuchen würde einen seiner Freunde zu erreichen, um ihn nach Hause zu bringen. Malik probierte alle seine Kontakte aus. Manche waren verreist, manche hatten keine Zeit. Am Ende saß Malik mit 15 Absagen noch immer im Warteraum. Er verzweifelte schön langsam und steckte sein Handy zurück in seine Hosentasche. Doch dann spürte er ein Stück Papier in seiner Tasche und wusste nicht, was er sich da eingesteckt haben könnte. Er zog das Papier aus seiner Tasche und las eine Abfolge von Zahlen. Darunter der Name Marie mit einem Herz anstelle eines Punktes über dem "i". Er überlegte kurz, ob er sie wirklich darum bitten sollte, aber er war verzweifelt und tippte ihre Nummer in sein Handy. Sie hob tatsächlich ab. Er erklärte ihr seine Lage und hoffte darauf, dass sie Verständnis haben würde. Sie reagierte sogar durchwegs positiv und meinte, dass sie in zwanzig Minuten bei ihm sein könnte. Malik war erfreut und überrascht darüber, dass sie sofort einwilligte, ihn abzuholen. Marie musste eine äußerst hilfsbereite Person sein, dachte er. Nach etwas mehr als zwanzig Minuten war Marie dann tatsächlich bei ihm. "Hey! Da bin ich wieder!" begrüßte sie ihn. "Ich habe mich vielleicht ein klein wenig verlaufen." sagte sie mit einem zurückhaltenden Lachen. "Schon okay. Es überrascht mich, dass du überhaupt gekommen bist." antwortete er verständnisvoll. "Wieso sollte ich denn nicht kommen?" entgegnete sie ihm. "Vielleicht weil wir uns erst heute kennengelernt haben?" meinte Malik. "Achso! Ja. Ich kann auch wieder gehen, wenn du meinst, dass wir uns nicht gut genug kennen." antwortete sie scherzhaft. Danach half sie Malik auf die Beine, indem sie ihm ihre Hände reichte, um ihn hochzuziehen. Er knickte bei seinem ersten Schritt leicht ein und Marie reagierte darauf, indem sie seinen Arm über ihre Schulter legte, um ihn abzustützen. Sie bewegten sich langsam voran, aber Malik gewöhnte sich mit der Zeit an das Gefühl und wurde etwas schneller, bis sie irgendwann normale Schrittgeschwindigkeit erreicht hatten. Marie hatte ihren Wagen zum Glück nicht weit weg von dem Ausgang des Krankenhauses geparkt. So erreichten sie ihren Wagen recht schnell. Kurz bevor sie einstiegen, bedankte sich Malik nochmal bei Marie. "Keine Ursache. Und schau mal, wen ich dir mitgebracht habe." sagte sie, bevor sie die Tür ihres Wagens öffnete. Lia und Murphy waren gemeinsam auf der Rückbank gesessen und sprangen sofort aus dem Auto, als die Türen geöffnet wurden. Malik wollte Lia über den Kopf streicheln, doch konnte sich nicht so tief bücken. Alle vier setzten sich in den Wagen und Marie fragte:"Wo soll ich dich hinbringen?" Malik vertraute ihr seine Adresse an und sie fuhren los. "Dann wohne ich ja ganz in deiner Nähe" sagte Marie lachend. "Nur 8 Minuten weg von dir" setzte sie fort. "Seltsam, dass wir uns noch nie begegnet sind." antwortete Malik. "Bist du dir sicher? Du kommst mir nämlich echt bekannt vor." entgegnete Marie unsicher. "Vielleicht haben wir uns ja schon mal gesehen, aber haben nicht so sehr auf einander geachtet." meinte Malik. "Schon möglich" stimmte Marie zu. Danach schwiegen die beiden, bis Marie anfing ein Lied zu summen und Malik miteinstimmte. Das entwickelte sich zu leisem Gesang und als die beiden angekommen waren, sangen sie gemeinsam schon ihr drittes Lied. "Das hat Spaß gemacht" meinte Marie fröhlich. "Finde ich auch!" antwortete Malik ebenfalls fröhlich. Die beiden stiegen aus und ihre Hunde ebenfalls. Sie bewegten sich zu Maliks Wohnung. "Ich muss dir echt danken für alles, was du heute für mich getan hast." meinte Malik schließlich. "Nein nein, das musst du nicht. Ich bin froh, wenn ich helfen kann." antwortete Marie.