2 Robin's Welt
Es war Samstag, Bone's Tag. Ich wühlte mich aus meinem Bett mit fünf Decken und bekam sofort eine Gänsehaut. Verfluchter Winter. Meine Heizung war ausgefallen und meine Wohnung kam mir wie ein Iglu vor. Ich sprang unter die Dusche, drehte das Wasser schreiend heiß und taute auf. Endlich Wochenende. Ich ertrug die Schule kaum noch. Die Monotonie der endlosen Theorie erdrückte mich, statt mich, wie früher, von meiner quälenden Einsamkeit abzulenken. Seitdem die anderen wieder da waren, war alles besser. Aber nur, wenn ich sie sah, denn durch ihre Anwesenheit wurde der Rest der Welt nur umso langweiliger, abschreckender, mir umso fremder. Ich hasste meinen Alltag, und die Stunden, die ich alleine war, waren doppelt so lange wie sonst. Es war jetzt nicht total fürchterlich oder so, es gab auch ein paar seltene, glückliche Tage, an denen ich den Schulstoff spannend, das Lernen bereichernd und das Alleinsein beruhigend fand. Ich machte auch immer noch hin und wieder was mit meinen Schulfreunden, allerdings nur, wenn die anderen keine Zeit hatten. Oder keine Lust. Denn im Gegensatz zu mir schienen sie ihren Freiraum zu brauchen. Bone mal ausgeschlossen, der saß schließlich im Gefängnis, der konnte nichts für seine Besucherzeiten. Aber Sunny und Ginger sagten des Öfteren einfach ab oder gingen nicht mehr an ihre Handys, und ich bekam wieder Panik, sie könnten tot sein oder sowas. Oder mich nicht mehr mögen. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich lieber vermuten wollte, so egoistisch das jetzt auch klingen mag. Sie wurden zu meiner Welt. Als ich Ginger irgendwann mal in einem betrunkenen Moment der Schwäche kläglich darauf ansprach, hatte er so laut gelacht, dass die Wände wackelten. „Die alte Leier also", hatte er gerufen. „Stimmt, Vögelchen, Wir hassen dich. Immer. Ohne Ausnahme. Kein Plan, warum ich ständig Zeit mit dir verbringe." Meine Sozialkomplexe waren entsetzlich, aber nicht ausblendbar. Deswegen hatte ich gewartet, bis er mit dem Lachen fertig war und ihm ganz ruhig genau die gleiche Frage gestellt.
„Ernsthaft, Ginger."
„Mein Gott, Robin. Du weißt doch wie wir sind. Wenn wir keinen Bock haben, wird das seine Gründe haben. Ich will nicht für Sunny sprechen. Aber ich habe sie, die haben nichts mit dir zu tun." Lüge, dachte ich, du lügst doch, und ich konnte es in seinem Gesicht sehen. Doch ich hatte geschwiegen und es hingenommen. Denn vielleicht hatte er zumindest ein bisschen Recht, ihre Gründe würden sie schon haben. Ihre eigenen, verdrehten, irrationalen Gründe. Nur weil wir jetzt in die Gesellschaft integriert waren, hieß das ja noch lange nicht, dass unsere Klatschen weg waren. Obwohl sich das bei mir teilweise eingerenkt hatte, ich würde mich jetzt nicht mehr unbedingt als irre bezeichnen. Das war mittlerweile ein zu großes Wort für meine nicht unerheblichen, aber auch nicht grenzüberschreitenden Anomalien.
Ich zog mich an und versuchte es mit ein bisschen Schminke, ich sah fürchterlich blass aus. Der Winter lies mich immer zu einem dieser sterbenslangweiligen Papiermädchen werden, durchsichtig, unauffällig, eindruckslos. Als wären in meinem Gesicht keine Kontraste oder Akzente, keine Schatten oder Formen. Nur Augen, Nase und Mund. Eintönig. Es klingelte und ich erschreckte mich so sehr, dass ich Kajal auf der Nase und nicht am Auge hatte. Verärgert wischte ich mir mein Werk wieder aus dem Gesicht und öffnete die Tür. Ginger tauchte groß und hager im Treppenhaus auf, eingehüllt in einen langen, abgewetzten Mantel. Er sah aus, als hätte er seit Tagen weder gegessen, noch geschlafen, er hatte Bartstoppel am Kinn und Augenringe bis zu seinen löchrigen Stiefeln. Ginger war arm, ärmer als wir alle, doch helfen ließ sich der Junge natürlich nicht. Er lief an mir vorbei, heute schien kein guter Tag für ihn zu sein. Mein Herz raste immer noch, wenn ich ihn sah, vor Aufregung, vor Angst, vor Freude, auch ein Jahr später noch. Eingeschüchtert schloss ich die Tür hinter ihm, verschreckt von der Kälte, die er mit in die Wohnung trug. Er stapfte wortlos in mein Zimmer, pfefferte seine Tasche irgendwohin und ließ sich dann auf meinem Bett nieder.
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Vier Welten
Teen FictionFortsetzung Freebirds - Die Verrückten haben es geschafft, sie haben sich durchgeschlagen, doch jetzt ist alles anders. Der Alltag als Inbegriff des Normalen, des Irren größter Feind. Sie leben so aneinander vorbei und doch, der rote Faden zieht sic...