3 Sunny's Welt
„Du bist zu dünn."
Ich hasste diesen Satz. Nein, so ganz richtig war das nicht. Eigentlich mochte ich diesen Satz. Du bist dünn. Das ‚zu' strich ich. „Die Dinge haben sich geändert, Mutter." Sie starrte mich aus ihren Eisblauen Augen an und häufte mir, ohne ein Wort zu sagen, noch eine Kelle Nudeln auf den Teller. Ich lächelte ihr bitterböse zu. „Ich werde das nicht essen, meine Güte." Sie seufzte. Meine Mutter war die Perfektion in Person. Sie war schön, aber alt. Erfolgreich, aber verbittert. Verheiratet, aber nicht verliebt. Egal, die Fassade saß. Bombenfest.
„Wie lange bleibst du diesmal?", fragte sie und hielt in der Bewegung inne. „Kommt ganz auf dich an. Wenn du mir noch eine einzige Spaghetti auf diesen Teller tust, bist du mich gleich wieder los." Sie ließ die Kelle sinken und gab diesen Kampf auf. Vorerst.
„Dein Vater und ich haben uns Sorgen gemacht. Kein Wunder, dass du so abgemagert bist, wenn du dich wie ein Tier draußen herumtreibst. Woher nimmst du Geld?" Ich griff nach dem Teller Spaghetti und schabte ein wenig darin herum. „Ich zeichne. Und ich wohne bei Freunden, ich treibe mich nicht wie ein Tier draußen herum." „Kunst." Meine Mutter sagte nichts mehr, dass musste sie auch nicht. Von Kunst hielt sie nichts. Von Kinderbüchern noch weniger. Ich ja eigentlich auch nicht. Ich hasste Kinder. Aber Geld brachte es, nicht viel, zugegeben, aber es reichte. Nur diesmal nicht. Und dann musste ich wieder zu meiner Mutter ziehen, in mein altes, weißes, strahlendes, perfektes Diamantenzimmer. Ich schob mir eine Gabel in den Mund und mir wurde schlecht, gleichzeitig wimmerte mein Magen vor Erleichterung auf. Drei weitere Stunden, und ich wäre irgendwie umgekippt.
„Na gut", sagte sie und lächelte leicht, „Ich will nicht streiten." Ich auch nicht. Ich war zu müde. Ich nickte und aß ganz langsam und vorsichtig, während meine Mutter mir die aktuelle politische Lage erläuterte. Ich hörte kaum hin, Politik interessierte mich nicht, die Idioten machten sowieso nie das, was wir wollten, und wenn doch, dann machten sie es falsch. Das war jetzt keine direkte Kritik, Politik kann man ja auch irgendwie nur falsch machen in einer Welt wie dieser.
Die Spaghetti waren weich und ich vermisste meine spitzen Zähne. Ich vermisste sie oft. Sie waren wie Verbündete, wie Waffen und wie Beschützer. Sie schützten mich vorm Lächeln, so oft es ging, wenn ich einfach nicht lächeln wollte. Ich musste mich nicht schämen, ich konnte mich einfach damit beruhigen, dass ich nicht lächeln konnte, sonst würden andere vielleicht Angst kriegen. Sie verteidigten mich in Notsituationen, wie damals in der verfluchten Anstalt, und sie halfen mir, mich zu bestrafen, wenn ich es selbst nicht konnte. Mein Kopf schaltete ich ab und die Zähne taten den Rest.
Verflucht, was vermisste ich die Dinger. Aber ein anderer Teil von mir musste sich eingestehen, dass sie mich nicht nur beschützten. Oder vor den falschen Dingen beschützten. Und dass sie mir nicht halfen, sondern schadeten. Gut, aber dieser Teil war klein und nervig. Ich tolerierte ihn, nahm ihn aber nicht ernst. „Fotographie", sagte meine Mutter, „Das wäre doch was. Du bist so schön, mein Kind. Die Narben könnte man wegschminken, die Haare ein wenig kämmen - Himmel, du bräuchtest nicht mal Schminke. Na gut, ein wenig Rouge vielleicht. Aber das wäre was. Ich rufe morgen jemanden an." „Ich töte dich, wenn du das tust", sagte ich und würgte eine weitere Gabel hinunter.
„Sagst du sowas zu allen, die du liebst?" Ich lachte trocken auf. „Ja, Mutter, das war ein Scherz."
Liebe. Bei dem Thema war ich irgendwie in der dritten Klasse hängengeblieben, es war ein Fremdwort, dessen Bedeutung mich nicht im Geringsten interessierte. Jungs sind doof, so nach dem Motto. Mädchen allerdings auch. Ich mochte halt einfach keine Menschen. Ich legte allerdings viel Wert auf Anerkennung. Ich musste niemanden mögen, mich musste niemand mögen. Aber anerkennen. Ich wollte, dass die Leute mich ernst nahmen, wahrnahmen, Respekt hatten und anerkannten. Ich hasste es, wenn Menschen lachhaft waren, wenn mich Menschen lachhaft fanden. Das hasste ich noch mehr.
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Vier Welten
Teen FictionFortsetzung Freebirds - Die Verrückten haben es geschafft, sie haben sich durchgeschlagen, doch jetzt ist alles anders. Der Alltag als Inbegriff des Normalen, des Irren größter Feind. Sie leben so aneinander vorbei und doch, der rote Faden zieht sic...