10 Robin's Welt
Die Klingel riss mich aus meinem Halbschlaf und ich fuhr hoch. Ich stolperte zur Tür, um so schnell wie möglich aufzumachen, dann verharrte ich ein paar Sekunden. Ich war mir auf einmal nicht sicher, ob ich Ginger sehen wollte. Er war zwei Wochen einfach weg gewesen, wie Bone damals, nur länger. Er hatte mir das Herz gebrochen, ohne Witz. Kein Anruf, keine Nachricht, und bei der Arbeit wurde ich nur unfreundlich angeschnauzt, dass ich, wenn ich ihn sehen sollte, ihm ausrichten könne, er solle seinen hässlichen Arsch nie wieder in diese Bar schieben. Denn er kam wohl von einen auf den anderen Tag einfach nicht zur Arbeit. Auch seine Sozialstunden nahm er nicht mehr war, aber da konnte ich die Mitarbeiter noch überzeugen, er hätte die Magen-Darm-Grippe bekommen, sodass er nur ermahnt wurde.
Es klingelte nochmal und ich drückte auf den Summer. Er sah so fertig aus, dass ich Angst bekam. „Man Robin", keuchte er, „Ich weiß, ich starte hier gerade voll die melodramatische Nummer, mit mitten in der Nacht anrufen und so, ich erklär dir das alles, also, wenn ich kann, ich weiß selbst nicht mehr, was abgeht –" Ich zog ihn in die Wohnung und gab ihm zu verstehen, er solle verdammt nochmal leiser sein. Denn ja, es war mitten in der Nacht. In meinem Flur war es dunkel und warm, ich hatte die Heizung hochgedreht. Wir standen rum und ich sagte nichts, er auch nicht mehr. Wahrscheinlich sind ihm die sowieso nicht existenten Erklärungen ausgegangen.
Er machte einen Schritt auf mich zu und umarmte mich sehr lange, sodass ich fast schon verlegen wurde. Ich schaltete das Licht an, wir entfernten uns tausend Galaxien voneinander und dann setzten wir uns auf mein Bett, ich kochte Tee und bot ihm was zu essen an, wie man das halt so macht, wenn man irgendwie keinen Plan hat, was man jetzt tun soll. Aber klar, Konsum geht immer. Letztlich wurde der Tee kalt und wir rauchten nur ohne Ende.
Irgendwann brach ich das Schweigen. „Erwartest du ernsthaft, dass ich dich jetzt nach deinem Befinden frage? Nach den zwei Wochen, in denen du dich einfach in Luft aufgelöst hast? Warum du den melodramatischen ‚Nightcall' bringst? Denkst du, ich finde dass alles jetzt aufregend und romantisch wie in so einem verfickten Jugendroman für traurige Mädchen? Ginger, entweder du erzählst selbst was los ist, oder halt nicht. Aber lass mich nicht warten."
Er sah tatsächlich verletzt aus. Ich sah weg, hörte ihn schlucken und das Geräusch seiner Zigarette, die er in meinem überfüllten Aschenbecher ausdrückte. Dann atmete er geräuschvoll aus und berührte mein Bein. Blöderweise zuckte ich auch noch zusammen.
„Es ist trotzdem mein Leben, Vögelchen", murmelte er und ich grinste. Ich konnte nicht anders, als meine Verzweiflung in Witz zu verwandeln. Es war zu absurd. „Stimmt", erwiderte ich trocken, meine Stimme klang verbittert. Mir fehlten die Worte, was sollte ich dazu sagen. Klar, sein Leben. Sein kleines, egoistisches, selbstbezogenes, arrogantes Gingerleben. Verdammt, er konnte mich mal. „Logisch, du musst dich nicht erklären oder rechtfertigen. Du darfst natürlich kommen und gehen wie du willst." Ich starrte ihn an und er wich mir aus. „Das meine ich nicht", setzte er an. „Ich weiß", unterbrach ich ihn, „Du fühlst dich nur schnell eingeengt und das habe ich jetzt missbraucht, indem ich dir das Gefühl gab, dass du eine gewisse Verantwortung gegenüber deinen Freunden hast, sodass du dich verteidigen musst, wenn du einfach abhaust. Tut mir Leid, mein Fehler. Wenn es dir hilft: So richtig hat sich auch keiner dafür interessiert, wo du warst." Jetzt starrte er mich an, er sah entgeistert und verloren aus, fast beschämt, seine Augen waren blutunterlaufen und seine Narben stachen scharf hervor. Er hatte abgenommen, und erst jetzt fielen mir die Risse und Schnitte an seinen Händen auf.
„Okay, kacke", murmelte ich also. „Es tut mir Leid, Rotkehlchen. Es ist mein Leben, aber ich weiß nicht mehr, was darin passiert, und ich weiß nicht mehr, wie ich damit umgehen soll. Woher solltest du es wissen?" Mein Zimmer drehte sich. „Lass uns morgen darüber reden, Ginger, bitte. Schlaf erstmal, du siehst viel zu beschissen aus. Ich kann dich nicht ansehen." Er nickte und grinste fast ein bisschen.
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Vier Welten
Teen FictionFortsetzung Freebirds - Die Verrückten haben es geschafft, sie haben sich durchgeschlagen, doch jetzt ist alles anders. Der Alltag als Inbegriff des Normalen, des Irren größter Feind. Sie leben so aneinander vorbei und doch, der rote Faden zieht sic...